Offener Brief an den UN-Generalsekretär

Qamishlo, 04. November 2019

Offener Brief an den UN-Generalsekretär ANTONIO GUTERRES,

Seit dem 9. Oktober 2019 greifen der türkische Staat und seine so genannte “Nationale Armee”, die sich aus ehemaligen IS-Mitgliedern und anderen Dschihadisten zusammensetzt, ununterbrochen das Gebiet Nord- und Ostsyriens an. Vor Beginn dieses angekündigten Besatzungskrieges und seit dem ersten Tag erwartete die Öffentlichkeit eine effektive Reaktion und Haltung der UN, um diesen Krieg zu beenden.

Obwohl einige Erklärungen abgegeben wurden, hatte keine der UN-Erklärungen das klare Ziel, den Besatzungskrieg zu beenden, und setze weder internationales Recht oder einen Sicherheitsmechanismus um, um die von der türkischen Aggression Bedrohten zu schützen. Es scheint unmöglich, dass die UN mit ihren 193 Mitgliedstaaten diese blutige Invasion, die unter dem zynischen Namen “Friedensquelle” durchgeführt wird und die den Völkern des Nahen Ostens Instabilität, Vertreibung und Chaos gebracht hat, nicht verhindern konnte. Dies wird als einer der größten Misserfolge in der UN-Geschichte in Erinnerung bleiben. Heute überfallen der türkische Staat und seine Söldner unsere Städte und Dörfer, töten unschuldige Menschen und entführen Frauen. Am schwerwiegendsten ist, dass zehntausende von Menschen – vor allem aus Serêkaniye (Ras al-Ain) – aus ihrem Land vertrieben wurden, von ihren Häusern, ihrern Herkunftsorten, ihren Lebensgrundlagen und Einkommensquellen getrennt wurden. Aufgrund der Bombardierungen der türkischen Armee waren sie gezwungen, ihre Heimat als Binnenflüchtlinge zu verlassen. Trotz der deutlichen Gewalt der türkischen Offensive in Nord- und Ostsyrien hat sich die UN bisher auf die einfache Funktion der “finanziellen Hilfe für Flüchtlinge” beschränkt.

Die UN verfügt über die Macht und die Mittel, um eine historische Rolle zu spielen und eine friedliche Lösung für den Krieg und die Krise in Syrien zu finden. Indem sie im Rahmen ihrer Aufgaben als friedenssichernde Kraft eine Funktion ausübt, hätte die UN ein transnationaler Akteur bei der Demokratisierung Syriens und aller Staaten im Nahen Osten sein können. Während des gesamten syrischen Krieges und insbesondere der türkischen Besetzung Afrins, die im Januar 2018 begann, bis zu den jüngsten Besetzungen der Städte und Regionen Serêkaniye und Girespî (Tilebiyat), hat die UN jedoch nicht gehandelt. Darüber hinaus hat ihre Politik den Staaten und Kräften gedient, die dem syrischen Volk Tyrannei auferlegen.

Als Frauen, die in Nord und Ostsyrien und Rojava leben, haben wir seit dem ersten Tag des Krieges die Erklärungen des UN-Generalsekretärs mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, und wir haben Ihnen unsere Gedanken und Forderungen in einem Schreiben übermittelt, das wir am 10. Oktober und in der von über 2.000 Frauenorganisationen und Menschenrechtsverteidigerinnen unterzeichneten Frauendeklaration, die wir Ihnen am 1. November übermittelt haben. In der Satzung der Vereinten Nationen heißt es, dass in jedem Krieg die universellen Menschenrechte Vorrang haben und weiterhin eine wichtige Rolle spielen sollten, die von den Kriegsparteien eingehalten werden müssen. Am 10. Oktober erklärte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi: “Hunderttausende Zivilisten in Nordsyrien sind jetzt in Gefahr. Zivilisten und zivile Infrastruktur dürfen kein Ziel sein.”

Nicht nur in Serêkaniye wurden Kriegsverbrechen begangen, die diese Erklärung dutzende Male missachteten. Die Zivilbevölkerung, einschließlich Kinder, wurden mit chemischen Waffen angegriffen. Innerhalb von ein bis zwei Tagen wurden zehntausende von Zivilistinnen und Zivilisten aus ihren Häusern und ihrem Land vertrieben. Hevrin Xalef, die Ko-Vorsitzender der Zukunftspartei Syriens, wurde gefoltert und hingerichtet. Die Körper von YPJ-Kämpferinnen, die gegen den IS kämpften, wurden in einer Weise gefoltert, die ihre Menschenwürde verletzte. In diesem Sinne möchten wir Sie fragen: Wie ist es möglich, Zivilistinnen und Zivilisten, sowie zivile Infrastruktur in diesem Raum zu schützen? Die Menschen wurden gezwungen, ihre Häuser, Geschäfte und ihr Hab und Gut hinter sich zu lassen. Die verbündeten Kräfte der Türkei haben sie in diesem schmutzigen Krieg geplündert und sehen sie als “Kriegsbeute”. Wir möchten wissen, welcher Abschnitt der Menschenrechtserklärung dies für legitim hält?

Von der UN wird erwartet, dass sie gegen diese und andere unzählige Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeht. Anstatt zu handeln, sehen wir die Tendenz, diese Situation zu normalisieren und die menschenverachtenden Praktiken der Türkei zu unterstützen. UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat kürzlich angekündigt, dass er der Ansicht ist, dass es möglich ist, die Krise in Syrien durch eine umfassende politische und nicht durch eine militärische Lösung zu beenden. Die in Syrien lebenden Menschen sind sich der Aufgabe bewusst, die die UN bei der Suche nach dieser Lösung übernehmen sollte. Von der UN wird erwartet, dass sie die militärische Gewalt unterbindet, jedoch hat sie bisher keine wirksamen oder entscheidenden Schritte in diese Richtung unternommen.

Darüber hinaus haben wir mit großer Empörung und Wut die Presseerklärung des UN-Generalsekretärs nach einem Treffen mit dem türkischen Präsidenten Tayip Erdogan am 1. November vernommen, in der es heißt: “Der Generalsekretär hat seine tiefe Wertschätzung für die starke Zusammenarbeit und Unterstützung der Türkei und der Vereinten Nationen zum Ausdruck gebracht”. Nach diesem Treffen kündigte der Generalsekretär an, dass der “UNHCR unverzüglich ein Team bilden wird, um den Vorschlag zu prüfen und Gespräche mit den türkischen Behörden aufzunehmen”, was den Plan der Türkei für “neue Siedlungsgebiete für syrische Flüchtlinge” betrifft.

Diese Erklärung untergräbt die Möglichkeiten einer politischen Lösung, schürt die Feindseligkeiten unter den Völkern des Mittleren Ostens und bekräftigt den erzwungenen demografischen Wandel und den Völkermord, der auch als “ethnische Säuberung” bezeichnet wird. Als in Nord- und Ostsyrien lebende Frauen akzeptieren wir dies nicht und verurteilen die Haltung und die Politik der Vereinten Nationen, die es unterlassen haben, unser Leben und unsere Rechte zu schützen.

Bei dem oben genannten Treffen stellte Erdogan seine Pläne vor, “Flüchtlingsstadtprojekte” in den Gebieten Serêkaniye und Girespî zu etablieren, wo zehntausende unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger gewaltsam vertrieben wurden. In diesem Zusammenhang erwähnte der UN-Generalsekretär nur “die freiwillige, sichere und würdige Rückkehr von Flüchtlingen”. Dies ist im Hinblick auf die Zukunft der Bewohnerinnen und Bewohner Nord- und Ostsyriens äußerst beunruhigend. Warum ignoriert der UN-Generalsekretär das Recht von Zehntausenden von Menschen, die aus ihren Häusern in Serêkaniye, Girespi und Til Temir vertrieben wurden, auf die gleiche freiwillige, sichere und würdige Weise in ihre Städte zurückzukehren?

Probleme können nicht mit gewissenhafter Blindheit und Social Engineering gelöst werden, indem man sich entscheidet, nicht zu sehen, wer die eigentlichen Bewohnerinnen und Bewohner dieser Städte sind. Der UN-Generalsekretär kündigte an, dass dieses Projekt vom UN-Hochkommissar für Flüchtlinge überprüft wird. Es ist auch sehr bemerkenswert, dass in der gleichen Erklärung die finanzielle Unterstützung der türkischen Regierung für die Vereinten Nationen erwähnt wird. Die von der türkischen Armee zerstörten Städte werden nun in Form von Flüchtlingsstädten mit dem Interesse des türkischen Kapitals und Profits wieder aufgebaut. Wir fordern die UN auf, ihrer erklärten Neutralität gerecht zu werden und das Schicksal der Menschen nicht für Handelsabkommen zu opfern. Es ist widersprüchlich, dass die UN über das Ermittlungsteam spricht, während es umfangreiche Beweise dafür gibt, dass zehntausende von Menschen aus ihrem Land vertrieben wurden, welches von Plünderungen, Folterungen und Morden von Banden der türkischen “Nationalarmee” überrollt wurde.

Als Frauen, die in Nord- und Ostsyrien und in der Region Rojava leben, fordern wir den Generalsekretär auf, endlich die Rolle zu übernehmen, die die UN seit Beginn der Syrienkrise nicht mehr zu spielen bereit war. In diesem Sinne:

– Wir fordern die UN nachdrücklich auf, wirksame Politiken und Praktiken zu entwickeln, um die Aggression und Besetzung Nord- und Ostsyriens durch die Türkei zu stoppen und eine nachhaltige politische Lösung zu erzielen, die die Vereinten Nationen auch bei der Umsetzung unterstützen.

– Um die Neutralität der UN zu wahren, fordern wir, dass vom UN-Hochkommissar für Flüchtlinge eine neutrale Expertenkomission eingerichtet und in die Regionen Serêkaniye, Gire Spî und Til Temir entsandt wird, um zu erkennen, dass das Projekt “Flüchtlingsstädte” auf Kosten des demografischen Wandels und des Völkermords zustande gekommen ist. Wir fordern diese Kommission auf, mit den zehntausenden von Menschen zu sprechen, die gewaltsam vertrieben wurden, und zu prüfen, ob ihr Recht auf eine “freiwillige, sichere und würdige” Rückkehr in ihre Heimat gewährleistet ist. Weiterhin appellieren wir daran, die Folgen von Erdogans Politik der Vertreibung zu untersuchen, welche die Bevölkerung zu Flüchtlingen macht, bevor seine “Flüchtlingsstadtprojekt” genehmigt wird.

– Wir glauben nicht, dass die derzeit 150 Mitglieder des syrischen Verfassungsausschusses den Willen von Frauen repräsentieren, die in den neun Jahren des Krieges heldenhaft gegen den IS-Terror in Syrien gekämpft haben. Darüber hinaus wurden Frauen, die seit Jahren für die Demokratisierung Syriens und die Freiheit der Frauen kämpfen, von diesem Verfassungsausschuss nicht anerkannt. Eine 20%ige Vertretung von Frauen in diesem Ausschuss löst das Problem nicht. Die politische Bedeutung wird deutlich, wenn die Kolleginnen und Kollegen von Hevrîn Xalef, der gewählten Ko-Vorsitzenden der syrischen Zukunftspartei, von der Teilnahme an der Verfassungsausschuß in Genf ausgeschlossen wurden, während die Verantwortlichen der Gewalttaten einbezogen werden.

Es ist politisch bedeutsam, dass FSA-Vertreter, die mit Mördergruppen wie IS und Al-Nusra zusammengearbeitet haben, in den Prozess einbezogen werden, während SDF-Vertreter, die seit Jahren gegen den IS kämpfen, und der Demokratische Rat Syriens, der die Vielfalt der Menschen in Syrien repräsentiert, ausgeschlossen wurden. Seit 9 Jahren bringen Frauen, insbesondere kurdische Frauen, Tausende von Opfer für ein demokratisches, freies und friedliches Syrien. Jede Verfassungsinitiative, die diese Tatsache leugnet und Bandenführer mit Blut an den Händen an den Verhandlungstisch lädt, wird das Chaos auf syrischem Boden vertiefen. Um dies zu vermeiden, fordern wir, dass die wahren Verfechter der Demokratie im Verfassungsausschuss vertreten sind, indem wir die gewählten Vertreterinnen und Vertreter aller Volksgruppen und aller in Syrien lebenden Frauen berücksichtigen.

Im Namen der Kongra Star-Koordination,

EVÎN SWÊD

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