Dieser Artikel wurde auf Spanisch am 4. November in der Zeitung El Salto veröffentlicht. Zum Original geht es hier.
Die türkische Invasion im Norden Syriens bedroht die fortgeschrittensten Erfahrungen mit direkter Demokratie und friedlichem Zusammenleben im Nahen Osten.
Alle paar hundert Meter gibt es Kontrollpunkte auf der Straße. Die Aşayis – die interne Sicherheitskräfte – überprüfen die Papiere der vorbeifahrenden Autos. Sie sind wachsam, zumal Dutzende von Mitgliedern des islamischen Staates mit Hilfe der türkischen Angriffe auf die Region aus den Gefängnissen und Camps entkommen sind. Islamistische Schläferzellen waren zwar vroher schon nicht ganz verschwunden, aber vor der Invasion der türkischen Armee könnten sie besser in Schach gehalten werden. Jetzt gibt es fast jeden Tag Explosionen in der Stadt Haseke, die im Süden Rojavas liegt; und mit zehntausenden Vertriebenen, die aus den Städten in Grenznähe zur Türkei kommen, ist die Stadt voll unbekannter Gesichter.
Sechzehn Tage sind vergangen, seit internationale und regionale Mächte diesen Krieg gegen die Region Rojava (Westkurdistan), die offiziell die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens genannt wird, organisiert haben. Die türkische Regierung und die der Vereinigten Staaten haben beschlossen, dass die Demokratie, die während des Konflikts in Syrien in diesem 750 km2 großen Gebiet entstanden ist, nicht ihren Interessen im Nahen Osten entspricht, und dass der Krieg fortgesetzt werden sollte, um ihre geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. „Wir werden entscheiden, was wir in Zukunft mit dem Öl machen werden“, sagte US-Präsident Donald Trump, als er ankündigte, dass ein Kontingent von 400 US-Soldaten um die Ölquellen von Der Ez-Zor und das strategische Gebiet von al-Tanf im Osten und Südosten Syriens bleiben würden.
Mitglieder jihadistischer Gruppen, die zuvor bei al Nusra – einem al-Qaida Ableger in Syrien – und beim IS gekämpft haben, tragen heute Uniformen der türkischen Armee. Diese Gruppen zeichnen Videos auf, wie sie die Häuser und Läden der Bevölkerung plündern, ihr Eigentum zerstören und grausam morden, und verbreiten diese Videos im Internet. Die grausame, Folter und Ermordung der Generalsekretärin der Syrischen Zukunftspartei, Hevrin Khalef, und die Verstümmelung des Körpers der YPJ-Kämpferin Amara Rênas haben die Bevölkerung tief getroffen. Sie sind Ausdruck einer Kultur des Frauenhasses, die bereits im Krieg gegen Afrin zu beobachten war.

Die von der türkischen Armee begangenen Verbrechen werden über das Internet verbreitet. Die Medien haben Fotos von abnormalen Verbrennungen an den Körpern von Jugendlichen und Kindern veröffentlicht. Ärzte in den Krankenhäusern von Qamishlo und Haseke gestehen, dass sie so etwas noch nie gesehen haben. Die Autonome Selbstverwaltung von Rojava bestätigt, dass weißer Phosphor als Waffe gegen Zivilistinnen und Zivilisten eingesetzt wurde, und ein internationales Komitee untersucht derzeit diese Annahme. Die Ko-Vorsitzende der Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Ilham Ahmed, präsentierte dem US-Kongress am 23. Oktober Fotos von verbrannten Leichen. Sie bezeichnete die Operation von Tayyip Erdogan als ethnische Säuberung und verurteilte die Scheinheiligkeit der zwischen der Türkei und den USA vereinbarten Waffenruhe: „Sie töten Menschen, entführen sie, beschlagnahmen ihr Eigentum und verbrennen ihre Bäume“, sagte Ilham Ahmed.
In den letzten zwei Wochen haben die türkische Armee und ihre jihadistischen Verbündeten – bei denen von Teile der Presse sowie der internationale Gemeinschaft weiterhin darauf bestanden wird, sie Freie Syrische Armee zu nennen – mehr als 200 Zivilistinnen und Zivilisten getötet und mehr als 600 Menschen verletzt. Mindestens 300.000 Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben. 85.000 Kinder sind gezwungen worden, den Schulunterricht einzustellen – mehr als 5.000 Lehrerinnen und Lehrer sind inzwischen arbeitslos. Im Falle der Stadt Haseke wurden 50 Schulen für Geflüchtete geöffnet, um ihnen eine Unterkunft zu bieten.
Die Wasseraufbereitungsanlage in Alok, die eine halbe Million Menschen mit Wasser versorgt, wurde gezielt angegriffen. Wenn ich den Wasserhahn öffne, ist das Wasser, das herauskommt grünlich. In Haseke ist das Wasser knapp und Tausende von Menschen in der Stadt trinken Wasser, das nicht sauber ist. Von Zeit zu Zeit kommt es zu Stromausfällen. Internet Ausfälle kappen unsere Verbindung zur Außenwelt.
Plötzlich Revolution
Rojava erstreckt sich nach Westen von der Region Manbij und nach Süden bis zur Wüste Der Ez Zor. In diesem Gebiet leben viele religiöse und ethnische Gruppen seit Jahrhunderten zusammen: Araber, Kurden, Syrer, Assyrer, Türkmenen, Yazidis, Tschetschenen und Armenier. Unter verschiedenen Imperien und Regimen wurde einigen Gruppen und Konfessionen das Recht verweigert, ihre Identität frei auszudrücken. Das seit 2011 in diesen Gemeinden entstehende demokratische, ökologische und auf Frauenbefreiung ausgerichtete Projekt respektiert den nationalen Pluralismus und fördert den multikulturellen und religiösen Ausdruck als eine seiner zentralen Säulen.

Seit 2011 ist Rojava ein demokratischeres und respektvolleres Projekt geworden als viele europäische Staaten. Jede Institution wird von einer Doppelspitze geleitet; von einem Mann und einer Frau, wenn möglich aus verschiedenen ethnischen Gruppen. Jedes Organ hat eine Geschlechterquote von 50% und eine Quote für ethnische Minderheiten.
Frauen stehen im Mittelpunkt dieser Revolution. Sie sind im politischen und öffentlichen Raum vertreten; sie sind auf den Straßen, den Institutionen und in den Medien. Sie haben ihre eigene, autonome militärische Kraft, bekannt als die YPJ. Jeder, der den Nahen Osten kennt, wird den starken Kontrast zu anderen Ländern der Region erkennen. Frauen organisieren sich in einem parallelen, autonomen System, sie haben eine Stimme und treffen ihre eigenen strategischen Entscheidungen für alle Belange die Frauen betreffen. Auch das Organisieren der Gesellschaft wird von Frauen angeführt.
Die demokratische Organisation von Rojava basiert auf Gemeinden, Stadtteilen und Dorfversammlungen, in denen sich die Menschen selbst organisieren und Entscheidungen treffen, die ihr eigenes Leben betreffen, indem sie die Politik von der Basis aus gestalten.
Leyla hat fünf Töchter und einen Sohn. Ihr Mann verließ sie, um eine andere Frau zu heiraten. Sie ist nun für die Gemeinde in ihrer Nachbarschaft verantwortlich. Sechs Tage in der Woche arbeitet mit den Menschen, die ins Gemeindebüro kommen. Sie hilft ihnen, die Grundversorgung mit Wasser, Gas und Strom zu organisieren. Sie organisiert Treffen zur Demokratieförderung und Selbstorganisation bei ihren Nachbarn. Leyla und ihre Mitfrauen fördern Besuche bei kranken Nachbarn, Familien der Gefallenen und armen Familien. Sie versucht sicherzustellen, dass niemand vergessen wird und dass die Solidarität zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern jeden Haushalt erreicht.
Leyla und ihre Mitfrauen berechnen diese Arbeit nicht. Sie lebt vom Gehalt von zwei ihrer Kinder, einer Tochter, die bei den Aşayis ist, und einem Sohn, der ein Kämpfer in der YPG ist. Leyla arbeitet für ihre Gemeinschaft, weil sie glaubt, dass der wahre Weg, eine Gesellschaft zu organisieren, dass es kollektive Arbeit sein muss und nicht Individualismus und Wettbewerb.

Der Krieg gegen den islamischen Staat hat mehr als 11.000 Kämpferinnen und Kämpfern das Leben gekostet. Die überwiegende Mehrheit davon waren Kurdinnen und Kurden. Zehntausende wurden verstümmelt oder leiden unter chronischen Schmerzen. Fawsya hatte zwei Söhne, die im Krieg gefallen sind. Einer fiel in Rakka, der andere in Afrin. Das Wohnzimmer in ihrem Haus ist ein erinnert an ihre gefallenen Söhne. Große Poster mit Fotos schmücken die Wände. In einer Ecke sind drei Plastikbäume mit kleinen Porträts anderer Gefallener, Männer und Frauen, die in diesem langen und schrecklichen Krieg gefallen sind.
Diese Portraits werden bei den Beerdigungen verteilt. Fawsya behält sie alle. „Ich werde nicht zulassen, dass einer von ihnen vergessen wird“, sagt sie entschlossen, „auch wenn ich den Raum mit diesen kleinen Bäumen füllen muss“. Für viele Politiker sind die Toten nur Zahlen, aber für die Familien in Rojava ist jeder Vater, jede Tochter, jeder Ehemann oder jede Frau, die getötet wird, ein unbeschreiblicher Schmerz, der nie zu überwinden ist, erklärt Fawsya: „Du gewöhnst dich an den Schmerz. Du akzeptierst es. Aber er verlässt dich nie. Dieser Schmerz wird nie vergehen“.
Das internationale Spiel
Die Pläne der internationalen Mächte für Syrien sind seit langem klar. In diesem komplizierten Krieg waren ihnen die Kurdeinnen und Kurden bequem Partner, als der islamische Staat in der Region vorankam, aber bereits 2018, als die gemeinsame Operation mit den syrischen demokratischen Kräften und der US-Armee ihr Ende fand, gab Russland der türkischen Armee grünes Licht für die Invasion des Kantons Afrin im Westen von Rojava. Dieser Krieg, der drei Monate dauerte, nahm Hunderte von Menschenleben und verursachte Tausende von Geflüchtete.
In der Nachbarschaft, in der ich wohne, gibt es viele Geflüchtete aus Afrin. Sie haben alles verloren und wissen, dass ihr Land unter türkischer Kontrolle steht, sie aber nicht in ihre Heimat zurückkehren kann. Entführungen und Erpressungen gegen die Bevölkerung von Afrin gehen weiter. Seit der Besatzung sind unzählige Menschen aus Afrin in andere Gebiete Syriens geflohen oder sind aus Angst vor Unterdrückung nach Europa reisen.
Als die Invasion am 9. Oktober begann, stellen sich die Familien immer wieder die gleichen beiden Fragen: „Warum hat die internationale Gemeinschaft uns wieder verlassen?“ und „Werden sie hier auch bombardieren?“ Die Bevölkerung hat Angst, insbesondere vor Bombenangriffen. Überall hört man den gleichen Satz: „Wir wollen nichts, wir wollen keine Waffen oder Truppen, wir wollen nur vor den Bombenangriffen sicher sein“. Die Verteidigungskräfte YPG und YPJ haben sich vor Ort bewährt. Die Ungleichheit der Waffen wird jedoch deutlich, wenn die sie mit ihren Kalaschnikows den NATO-Kampfflugzeugen gegenüber stehen.