Wie syrische Frauen Widerstand gegen das Patriarchat, den Nationalstaat und die türkische Invasion leisten

Dieser Artikel von Rosel Jackson Stern erschien im original im Englischem am 20. November 2019 im online magazine Gal-Dem Politics.

Aus dem syrischen Bürgerkrieg ist in einer de-facto autonomen Region im Nord-Osten des Landes eine Revolution entstanden: Rojava. Das kurdische Volk hat eine lange Geschichte der Marginalisation seitens der Staaten, die ihre Heimat besetzen. Die Unterdrückung der KurdInnen in der Türkei kann auf das Ende des Osmanischen Reiches zurückgeführt werden, und auch heute ist es ihnen verboten, ihre Sprache zu sprechen und ihre kulturelle Identität auszudrücken. Aufgebaut im Widerstand gegen die Repression, wurde 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegründet. Kurdische Frauen haben trotz Versuche sie bei Seite zu stellen, immer eine zentrale Rolle im kurdischen Widerstand gespielt, als Aktivistinnen, als Anführerinnen ihrer Community und als Kämpferinnen. In Nordost-Syrien war und bleibt ihr Widerstand ausschlaggebend für die Autonomie der Region und für die Sicherheit von Frauen.

“Dieses radikale politische Projekt, welches auf den Prinzipien der Gleichberechtigung von Frauen und soziale Ökologie beruht, ist nun bedroht.”

Seit 2011 haben kurdische Einheiten sowohl gegen den IS gekämpft als auch eine direkte Demokratie für alle BewohnerInnen Rojavas aufgebaut. Das wird umgesetzt durch ein System lokaler Volksräte welche den Nationalstaat ablehnen. Jede Machtposition in den Räten wird zwischen einem Mann und einer Frau aufgeteilt. Frauen sind frei, sich in seperaten Räten und Kooperativen zu organisieren, um sicherzustellen, dass ihre Stimmen gehört werden. Straßen und Dörfer sind in Kommunen organisiert, in dem Bewohner Kontrolle über ihre eigenen politischen Entscheidungen haben. Dieses radikale politische Projekt, welches auf den Prinzipien der Gleichberechtigung von Frauen und soziale Ökologie beruht, ist nun bedroht. Nesrin Abdullah, Mitbegründerin und Kommandantin der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) – eine der zwei kurdischen bewaffneten Kräfte in Rojava – erklärt, dass die türkische Regierung die übrig gebliebenen Gruppierungen des IS und der Al-Nusra, der Al-Qaida-Ableger in Syrien, benutzt, um Frauen anzugreifen und das Land zu belagern.

Am 9. Oktober marschierte die Türkei in Rojava ein, einige Tage nachdem Donald Trump den Abzug der US-Truppen aus der Region angekündigt hatte und damit den Einmarsch des türkischen Militärs ermöglichte. Präsident Recep Tayyip Erdoğan legitimierte den Einmarsch, indem er sich auf den Aufbau einer Pufferzone berief, in welcher er die 3 Millionen syrischen Flüchtlinge ansiedeln könnte, während er kurdische KämpferInnen und ZivilistInnen tötet und kurdische Kontrolle über das Gebiet zurückzieht. Um das zu erreichen, ist Erdoğan einen Deal mit Vladimir Putin eingegangen, um Patrouillen an der türkisch-syrischen Grenze etablieren zu können. Während der Vorwand für die Invasion eine angebliche Notwendigkeit ist, ist die Entscheidung, in Rojava einzumarschieren, geprägt von der wachsenden Diktatur Erdoğans, der Unterdrückung des kurdischen Volkes und einer konservativen Geschlechterpolitik. Professor Nadje Al-Ali, momentan an der Brown University, verdeutlicht dass Erdoğans Mission um syrische Flüchtlinge neu anzusiedeln ein Bevölkerungsaustausch mit genozidalen Auswirkungen: “Die meisten Flüchtlinge [in der Türkei] kommen aus dem Süden Syriens. Sie kommen gar nicht aus der [“Pufferzonen”] Region, also würden sie angesiedelt an einen Ort der fremd für sie ist. [Erdoğan] sagt nicht nur okay, wir siedeln sie dort an. Er sagt, lass sie uns da ansiedeln und die KurdInnen von dort verschwinden lassen. Das tut er aktiv, indem er sie militärisch angreift.”

Die kurdischen Einheiten reagieren auf diesen Angriff, und ein intensiver Krieg findet in der Region statt. “Tausende Kämpferinnen sind an der Front, um ihr Volk und ihr Land zu verteidigen”, berichtet Nesrin. “Das ist nichts Neues für uns. Seit 2011 hat unser Land Angriffe erlebt. Damals waren es terroristische Gruppen, die uns attackiert haben, jetzt ist es der türkische Staat.” Die Proportionen in diesem Krieg haben sich exponentiell zum Vorteil der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten gewandelt. Die türkische Regierung hat chemische Waffen, weißen Phosphor, gegen die Menschen in Rojava eingesetzt und scheinen vor niemandem rechenschaftspflichtig außer sich selbst. Die internationale Gemeinschaft, die schnell als den Assad’s Einsatz chemischer Waffen verurteilten, sind nun bezeichnenderweise still geblieben. “Das ermutigt den türkischen Staat umso mehr, um mit ihren Attacken fortzufahren, weil niemand ihn auffordert, damit aufzuhören”, sagt Nesrin.

“Eın großer Sieg für uns war es, unsere Gemeinschaft dazu zu bringen, auf die Kraft von Frauen zu vertrauen, Frauen dazu zu bringen, sich selbst und einander zu vertrauen.”

In der YPJ gibt es keine festgelegten Rollen. Nesrin ist ständig als Kommandantin, Kämpferin und diplomatische Vertreterin tätig, und ihre Aufgaben ändert sich ständig. “Im Ansatz der YPJ, gibt es keinen Unterschied zwischen Kommandantin und Kämpferin. Sie sind Freundinnen und Genossinnen.” Eine der Herausforderungen bei der Gründung der YPJ war es, Menschen davon zu überzeugen, dass Frauen dazu in der Lage sind, ihre Gemeinschaft zu verteidigen: “Eın großer Sieg für uns war es, unsere Gemeinschaft dazu zu bringen, auf die Kraft von Frauen zu vertrauen, Frauen dazu zu bringen, sich selbst und einander zu vertrauen.” Dieser Glaube in Frauen ist das, von dem Nesrin glaubt, dass er die dschihadistischen und türkischen Angriffe anheizt. “Sie sind davon überzeigt, dass die Kraft der Frauen sie schlagen kann. Aus diesem Grund greifen sie uns an.”

Sie merkt an, dass weder die Gründung der YPJ noch die momentanen Kämpfe einfache Aufgaben sind. Ihr Land zu beschützen und um das Überleben ihres Volkes zu kämpfen, und gleichzeitig Frauenhass und jeglichen Formen von Gewalt ausgesetzt zu sein, ist enorm schwierig, aber ihre Mission ist so klar wie noch nie: “Erst einmal haben wir eine Bestimmung und eine Verantwortung unserem Land, unserer Heimat und unserem Volk gegenüber. Wir haben eine Verantwortung gegenüber unserer Gemeinschaft. Wir haben eine Verantwortung gegenüber der Menschlichkeit. Wir haben eine Verantwortung gegenüber Frauen, gegenüber der Erde unserer Heimat und uns selbst gegenüber. Wir müssen sie alle beschützen.” Nesrin erklärt, dass es keine Gerechtigkeit in dieser Welt gibt. Angesichts alldessen hat die YPJ versprochen, weiterhin zu kämpfen, um ihr Volk zu beschützen.

Für Frauen in der Stadt Al-Hasakah in Rojava ist der Widerstand gegen die türkische Invasion Teil des Alltags geworden. Hebûn, die für Kongra Star arbeitet, eine Dachorganisation der Frauenbewegung in Rojava, erklärt, dass viele Menschen vertrieben und viele Frauen gezwungen wurden, aus ihrer Heimat zu flüchten: “Viele von ihnen schlafen nun in Schulen, in einem Klassenraum gibt es 4-5 Familien. Sie haben keine Privatsphäre oder Zugang zu Versorgung.” Protest ist zur Routine geworden. Kinder schließen sich nach der Schule den Frauen an, um Gedichte zu lesen, zu singen und ihre Stimmen zu erheben. Demonstrationen gegen die türkische Invasion, die regelmäßig stattfinden, erklären: “Wir, die Frauen von Rojava, erheben unsere Stimmen, wir möchten euch hier nicht.”

Vor der Invasion war Kongreya Star in jeder Stadt und in jedem Dorf in Rojava organisiert. Sie bauten Komitees für Selbstverteidigung, Wohnen und Bildung auf, während sie Frauenkooperativen und -komitees finanzierten. Diese Arbeit ist nun noch schwieriger, wenn nicht unmöglich geworden in den Gebieten die vom türkischen Militär belagert sind. “Zwischen Gire Spî und Serêkaniyê können sie mit der Arbeit nicht mehr fortfahren”, sagt Tina Heinle, die für die #WomenDefendRojava-Kampagne arbeitet. “Die meisten von ihnen sind geflohen und die Menschen die unter der Besatzung leben können nicht fortfahren mit ihrer Arbeit, weil sie sich sofort in Lebensgefahr begeben würden.” Tina erzählt mir die Geschichte von Hevrin Khalef, Ko-Vorsitzende der Syrischen Zukunftspartei, die von dschihadistischen Gruppen überfallen wurde: “Sie wurde an den Haaren aus ihrem Auto herausgezogen. Sie wurde gefoltert und dann durch Kopfschüsse ermordet. Dieseselben dschihadistischen Gruppen posten Videos von YPJ-Kämpferinnen in den sozialen Medien, auf denen sie verspottet und ihre Leichname brutal missbraucht werden. Diese dschihadistischen Gruppen sind dieselben, die die türkische Regierung rekrutiert, um Frauen und kurdische Einheiten in Rojava anzugreifen und zu töten.

Widerstand gegen die türkische Besatzung wird von vielen verschiedenen Frauen getragen, zivile und militärische, junge und ältere. Şerîn Faho, Mitglied der HPC Jin (Gesellschaftliche Verteidigungseinheiten der Frauen), die als Graswurzel-Organisation für die Sicherheit der Region fungiert, beschreibt die türkische Invasion als eine fundamentale Bedrohung ihrer Gemeinschaft und ihrer Sicherheit. Sie erzählt mir von dem berichteten Einsatz chemischer Waffen seitens der türkischen Einheiten: “Der türkische Staat unsere Kinder mit Phosphor überschüttet.”

HPC-Jin

Unabhängig vom Militär schafft die HPC sichere Zonen für ihre lokalen Gemeinschaften, verteilen Waffen an Frauen und trainieren sie. “Am Anfang des Bürgerkriegs”, erklärt Şerîn, “haben sich alle Jugendlichen dem Kampf gegen den IS angeschlossen. Unsere Städte und Dörfer wurden leer und zerbrechlich. Wir waren gezwungen, diese Gemeinschaft für Mütter und Väter zu gründen, damit sie sich selbst beschützen können.” Die Idee hinter der Organisation ist es, älteren Menschen eine Rolle im Widerstand zu geben. Jede Person ist dafür verantwortlich, die Straßen sicher zu machen und sie koordinieren Kontakt zu Familien. “Wenn eine Frau stirbt, organisieren wir Beerdigungen für sie. Wir müssen Trauerzüge organisieren, um sicherzustellen, dass ihrer ordentlich gedacht wird, denn auch wir haben unsere Märtyrerinnen.” Die HPC Jin lösen häusliche Konflikte und bauen Check-points gegen den IS und dschihadistische Gruppen auf, die ihre Gemeinschaften angreifen. Şerîn erklärt, warum sie immer im Dienst ist: “Wenn jemand mitten in der Nacht zu mir kommt, muss ich bereit sein, mein Haus zu verlassen und helfen zu gehen.”

Neben diesen Graswurzel-Bemühungen hält Şerîn gleichzeitig den Haushalt und die Erziehung ihrer fünf Kinder aufrecht: “Ich wasche meine Kleider. Ich gehe einkaufen und besorge Lebensmittel”, erklärt sie. “Ich bin nur eine Frau, die in der Gemeinschaft lebt und ihr helfen will.” Einige Mitglieder der HPC waren mal in den militärischen Einheiten, aber die meisten in der Organisation sind zivile Menschen: “Manche von uns sind 60-70 Jahre alt”, sagt Şerîn, selbst 43 Jahre alt und Mutter von fünf Kindern: “Manchmal sind wir gezwungen, zu den Waffen zu greifen, aber das ist nicht der Sinn unseres Lebens. Wir möchten nur in Sicherheit sein.”

Frauen in Rojava kämpfen um ihr Land zu verteidigen, das nun von einem der größten Armeen Europas bedroht wird. Die, die mit mir sprachen, sagten, dass ihr Widerstand über Ethnie und Religion hinausgeht. Es ist nicht nur eine Bewegung für kurdische Frauen, es ist für alle syrischen Frauen; sie wissen, was eine türkische Besatzung für sie bedeuten würde. Tina erzählt mir von einem verbreiteten Empfinden der Aktivistinnen: “Wir haben dieses Gebiet nicht vom IS befreit, um es dann der türkischen Besatzung zu überlassen”. Die Türkei hat sich dem türkischen Imperialismus gegenüber als loyal bewiesen, indem er die dschihadistischen Gruppen betätigt, die während des gesamten syrischen Bürgerkriegs Frauen misshandelt haben. Auf der Basis einer langen Geschichte des kommunalen Widerstands, scharen sich syrische Frauen aus Notwendigkeit zusammen. Ihre Freiheit dafür aufzuwenden ist ein kleiner Preis im Gegensatz zur Gewalt, die ihnen durch die türkische Regierung droht.

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