«Ich bin hin- und hergerissen zwischen Wut und Resignation» – Leonie Traber zu Rojava

Leonie Traber, die in der Schweizer Klimastreikbewegung aktiv ist, teilt hier ihre bewegenden Gedanken zur gegenwärtigen Situation in Rojava mit uns. Ausgelöst wurden diese durch die Arte Dokumentation “Rojava stellt Frauen gleich”.

«Ich weiss nicht, was diese Filmsequenz bei euch ausgelöst hat. Mir gab sie Hoffnung. Hoffnung, dass in Rojava alles darangesetzt wird, eine gerechtere Welt zu schaffen. Ein Gesellschaftsexperiment, das als Vorbild für uns alle dienen könnte. «Dieses Rojava, zwischen Tigris und Euphrat, ist ein ganz anderes Syrien. Eine echte gesellschaftliche und politische Revolution. Einzigartig im mittleren Osten und von allen Seiten bedroht.» Diese Bedrohung ist vor 49 Tagen Realität geworden.

Am 9. Oktober 2019 begann Erdogan seine türkische Militäroffensive in Nordsyrien mit Luft- und Artillerieangriffen. Plötzlich stand die Revolution, inspiriert und geprägt von Frauenbefreiung, Ökologie und radikaler Demokratie, vor dem Abgrund. Es sind nicht mehr Bilder, die von Gleichberechtigung und einem Leben in Harmonie mit der Natur erzählen. Eindrücke einer basisdemokratischen Bewegung werden abgelöst von Videos des Schreckens. Solche, die wir uns hier nicht zu zeigen wagen, und dennoch verbildlicht werden müssen.

Verbrannte Gesichter, um Hilfe schreiende Stimmen und solche, die verstummt sind. Wie selbstverständlich liegen Menschen in ihren eigenen Blutlachen. Soldat*innen stolpern – Kameras fest umschlossen – zwischen brennenden Häusern, explodierenden Autos und kreischenden Kindern über leblose Körper.

Bilder, die mir unter die Haut gehen wie den Opfern weit entfernt die Kugeln der Gewehre. Die Verzweiflung spricht aus den panischen Augen der an Spitalbetten Gefesselten. Verständnislos, dass sie die Leidtragenden sind. Sie, die weder töten, noch rauben oder ausnutzen. Nicht nur müssen sie zusehen, wie die Mächtigen dieser Welt ihr Zuhause niederbrennen, sie aufgrund ihrer Wurzeln verdammen, sie wegen ihrer Natur vertreiben. Nein, sie, die in Harmonie mit Menschen jeder Herkunft, mit der Natur und deren Fruchtbarkeit zu leben versuchen, werden dafür bestraft, dass sie sich diese Zukunft erhoffen. Sie müssen den Schmerz durch die dreckigen Profitgeschäfte, die endlose Gier von Staatsmännern, das ausbeuterische System am eigenen Körper erfahren. Entstellte Kindergesichter, klaffende Schusswunden, von chemischen Waffen verbrannte Arme und Beine.

Und ich sitze vor meinem Bildschirm, sehe diese Ungerechtigkeit, sehe, wie die Revolution mit Füssen getreten wird. Meine Hände zittern, meine Stimme bebt. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Wut und Resignation. Aber ich bin wie gelähmt – aus Angst. Angst davor, nicht mehr zu erreichen, als einen Tropfen auf den heißen Stein zu gießen.»

von Leonie Traber
Zürich, 27. 11. 2019

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