Die Xabûr Region, die sich von Serêkaniyê entlang des Flusses Xabûr Richtung Süden über Til Temir bis nach Haseke erstreckt, steht seit dem 9. Oktober 2019 erneut unter Beschuss.
Der Besatzungskrieg der türkischen Armee gegen die Gebiete der Autonomen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien geht mit einem Genozid an Völkern einher, die seit Jahrtausenden in diesem Gebiet lebenden. Im Rahmen des 3. Weltkrieges wiederholen sich heute Dynamiken und Ereignisse, die an die Vorbereitung der Völkermorde und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Weltkriege im 20. Jahrhundert erinnern: Am 24. April 1915 begann das Osmanische Reich den Genozid am armenischen Volk mit der Hinrichtung hunderter armenischer Intellektueller und Führungskräfte. Auch gegenwärtig verfolgt der türkische Staat mit extra-legalen Hinrichtung von gesellschaftlichen und politischen Führungskräften das Ziel, den Widerstand und Zusammenhalt der Bevölkerung brechen. Hierzu gehören vom türkischen Geheimdienst koordinierte Anschläge und Attentate auf aktive Mitglieder der Autonomen Selbstverwaltungsstrukturen, die Ermordung der Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens Hevrîn Xelef sowie des armenischen Priesters Henan Bido und seines Vaters. Während des ersten Weltkriegs wurden zwei Millionen ArmenierInnen und Suryoye auf Todesmärschen und in Konzentrationslagern in der Wüste von Derazor ermordet. Nun verlaubarte Trump gegenüber den Versuchen des türkischen Staates die Grenzregion Rojavas von KurdInnen “zu säubern” zynischer Weise, ein „geeigneter Lebensraum für Kurden” sei bei den Ölquellen, sprich in der Wüste von Derazor!
Damals wie heute schweigen internationale Mächte aufgrund eigener Machtinteressen zum Bruch des internationalen Völkerrechts und unterstützen die Vorbereitung von Völkermorden. So wie die westlichen Mächte, Sowjetrussland und der Völkerbund mit dieser Haltung einst Hitler zur Besetzung Österreichs und Tschechiens ermutigten, so gibt es heute einen ähnlichen Konsens internationaler Mächte. Aufgrund ökonomischer und geostrategischer Profitrechnungen leisten sie alle – einschließlich der UNO – Beihilfe zu den Genozidplänen der Türkei. In diesem Artikel sollen die geschichtlichen Dimensionen des türkischen Besatzungskriegs am Beispiel der Angriffe auf die Habûr-Region genauer beleuchtet werden.
Widerstand gegen neue Genozide und Feminizide in der Xabûr Region
Die ersten Bombardierungen der türkischen Armee richteten sich gegen Serêkaniyê. Diese Stadt wurde mit der im Vertrag von Lausanne 1923 beschlossenen Grenzziehung in zwei geteilt. Die nördlichen Stadtteile wurden von der Türkei in „Ceylanpinar“ umbenannt, der südliche Teil der Stadt von Syrien in „Rasalayn“. Als Grenzstadt und westlichste Stadt des Kantons Cizire auf dem Weg nach Girêsipî und Kobanê besitzt sie strategische Bedeutung. Die 40 km südlich von Serêkaniyê gelegene Kleinstadt Til Temir ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt an der Fernstrasse M4. Hier kreuzen sich die Verbindungswege zwischen Haleb und dem Grenzübergang in den Irak; zwischen Hasseke, Serekaniye und Dirbesiye. Til Temir liegt am Fusse des Kezuwan Gebirges, das über die Ebene des Kantons Cizire wacht.
Schon in den Jahren von 2012 bis 2015 hatten hier heftige Gefechte getobt. Zunächst hatten Söldner der FSA zugehörigen El-Nusra Front versucht, diese Region zu erobern und zu entvölkern. Zehntausende – vor allem assyrische und kurdische – Familien flohen damals vor drohenden Massakern. Andere blieben und organisierten gemeinsam mit Einheiten der YPJ und YPG den Widerstand. Der assyrische Xabûr-Verteidigungsrat gründete sich mit der Zielsetzung den vollständigen Exodus der christlichen Bevölkerung aus der Region zu verhindern. 2014 folgten weitere Massaker und Angriffe des IS auf die Region. 350 ChristInnen wurden vom IS verschleppt, um Lösegeld zu erpressen; ihre Dörfer wurden vom IS zerstört, besetzt und geplündert. Durch einen entschlossenen Widerstand gelang es, die Städte Til Temir und Serêkaniyê zu verteidigen. Bis zum Sommer 2015 konnten YPJ und YPG Einheiten gemeinsam mit dem assyrischen Verteidigungsrat alle vom IS besetzten Gebiete und Dörfer im Xabûr-Gebiet befreien. Auch internationalistische KämpferInnen wie Ivana Hoffman beteiligten sich an diesem Kampf. Sie und hunderte ihrer KampfgefährtInnen – KurdInnen, AssyrerInnen, AraberInnen und TürkInnen – gaben ihr Leben für die Verteidigung und Befreiung der Xabûr-Region. Sie legten den Grundstein für die Phase des Neuaufbaus: Nicht nur vom Krieg zerstörte Häuser und Infrastruktur wurden neu aufgebaut sondern auch ein System der demokratischen Selbstverwaltung. Alle Bevölkerungs- und Glaubensgruppen hatten von nun an die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse und Interessen zu artikulieren und sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligten. In diesem Prozess des Aufbaus von Kommunen und Volksräten, Schulen, Kooperativen, sozialen und kulturellen Einrichtungen lernten die Menschen der verschiedenen Communities einander besser kennen und wuchsen im gemeinschaftlichen Leben zusammen.
Serekaniye und die Xabûr-Region sind nicht allein aufgrund ihrer geostrategischen Lage erneut zum Angriffsziel geworden. Wie El Nusra und der IS so hat sich auch heute die türkische Besatzungsarmee den Exodus der christlichen, ezidischen und kurdischen Bevölkerung Nordsyriens zum Ziel gesetzt. Wir erleben eine Fortsetzung der kolonialen Völkermordpraktiken und imperialistischer Herrschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts.
Der aktuelle Feldzug gegen die selbstverwaltete in Gebiete in Nord- und Ostsyrien und die hier lebende Bevölkerung wird mit dem Ziel geführt, Jahrtausende alte Kulturen und das gemeinschaftliche Leben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu zerstören. Denn das solidarische Leben, die gemeinschaftliche Ethik, kommunale Ökonomie und Organisierung machen staatliche Herrschaftsstrukturen überflüssig. Sie stehen im Widerspruch zu der kapitalistischen Verwertungslogik sowie zu der ethnischen Spaltung und Homogenisierung unter dem Dach von Nationalstaaten. Die kommunalen Werte und Kultur des Widerstands gegen Unrecht haben tiefe historische Wurzeln. Sie sind das kollektive Gedächtnis der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der Region des Fruchtbaren Halbmonds. Deshalb gelang es bislang keiner der unzähligen Invasions- und Besatzungsmächte, die sozialen, kulturellen Strukturen und Lebensformen, die bis ins neolithische Zeitalter zurückreichen, vollständig auszulöschen. Von den Hegemonialbestrebungen sumerischer, akkadischer, assyrischer und persischer Herrscher über die Feldzüge Alexander des Großen und des römischen Reiches bis hin zu den Kreuzrittern, Mongolen, Osmanen und europäischen Kolonialmächten hinterließen alle Mächte Spuren der Zerstörung. Sie zerstückelten das Land, versklavten Frauen, ermordeten und vertrieben die Bevölkerung, rissen Familien und Gemeinschaften auseinander. Insbesondere in den letzten 150 Jahren bemühten sich die verschiedenen Kolonialmächte und Regime darum, Vorurteile und Misstrauen unter den Bevölkerungsgruppen zu schüren, um ihre Vormachtstellung durchzusetzen. Jedoch gelang es ihnen trotz allem nicht, die Kultur der Muttergöttinnen und die Matrix der egalitären Gesellschaftsformen insgesamt zu vernichten, die bis zum heutigen Tag die Basis gesellschaftlicher Widerstände bilden.
Unter den über zehntausend als „Til“ oder „Gir“ bezeichneten Hügeln in Nordsyrien liegen Zeugnisse der 10.000 jährigen menschlichen Siedlungsgeschichte verborgen. Gebiete wie Kobane, Efrin, Minbic, Jerablus, Giresipiyê, Serekaniye und die Xabur-Region, die nun durch die Besatzungsarmee und dschihadistischen Söldnergruppen des türkischen Staates attackiert werden, sind die Ursprungsorte der neolithischen Revolution, in der Frauen eine zentrale Rolle spielten. In den vergangenen 5000 Jahren bis zum heutigen Tag wurden diese Orte und Gesellschaften zum Ziel expansionistischer Kriege und Raubzüge erkoren, um die materiellen und ideellen Reichtümer dieser Region auszuplündern. Mit der physischen Besatzung, durch Genozide und Feminizide sollten neue Wahrheiten geschaffen werden. Die Geschichte, das Wissen, die Kultur und Sprachen der Völker Mesopotamiens sollten in den Massengräbern begraben werden. Denn nur so konnten koloniale und patriarchale Erklärungsmuster der Menschheitsgeschichte glaubhaft gemacht werden. Diese wurden dann wiederum dazu benutzt, neue Kriege anzufachen und Gewaltherrschaft zu legitimierten. Das sind die Narrative derer sich bis heute imperialistische Staaten, die Türkei und der IS bedienen.
Demgegenüber wollen wir den Stimmen von Frauen Gehör schenken, die als Kinder und Enkelkinder der Überlebenden der Genozide des 20. Jahrhunderts heute in der Xabûr Region leben. Vor 2 Jahren sprachen wir mit diesen Frauen, die damals eine wichtige Rolle bei der Organisierung ihren Gemeinden spielten: Ator Ishaq gründete ein Haus und eine Lebensgemeinschaft für alte Menschen – überwiegend Frauen – aus der assyrischen Community in Til Temir, die sich entschlossen haben ihre Heimat nicht zu verlassen. Madlein aus dem Dorf Helmond am Xabûr schloss sich 2012 dem assyrischen Verteidigungsrat der „Xabûr Wächter“ an, beteiligte sich an der Verteidigung und dem Aufbau der kommunalen Ökonomie- und Selbstverwaltungsstrukturen in ihrer Region. Elenor trafen wir nach einem Frauengebet in der chaldäischen Kirche von Serêkaniye. Sie unterstützt mit ihrer Lebensweisheit und ihrem Wissen die junge Generation von ChristInnen dabei, ihre Kultur selbstbewusst zu leben und zu verteidigen.
Ator Ishaq, die in ihrer Gemeinde auch liebevoll “Mutter von Assyrien” genannt wird, stellt sich selbst als “Tochter von Til Temir und Enkelin von Xabûr” vor. Sie spricht mit Stolz von der 7000 jährigen Geschichte ihrer Vorfahren, deren Ursprünge in den Zivilisationen der Sumerer, der Akkader, Babylonier und Assyrer liegen. Die Beziehungen zwischen Aramäern, Assyrern und Chaldäern, die im Deutschen auch als Suryoye bezeichnet werden, beschreibt sie folgendermaßen: “Es gibt keine Unterschiede zwischen Kulturen und Traditionen der Aramäer, Assyrer und Chaldäer. Die Chaldäer sind Nachkommen von Akkad; die Aramäer stammen von Sargon ab und die Assyrer von Aschur. Sargon, Akkad und Aschur waren Brüder. Jeder von ihnen regierte einen Stadtstaat.’1Sie strebten an, ihren Einflussbereich auszuweiten. Daher entstanden zwischen ihnen historische Beziehungen und Streitigkeiten. Beispielsweise eroberte das assyrische Reich im 9. Jahrhundert v. Chr. aramäische Fürstentümer in der Euphratregion. Hierzu gehörte u.a. auch das Fürstentum Guzana, das auf den Fundamenten der bei Serekaniye gelegenen neolithischen Siedlung von Til Halaf errichtet worden war. Ator Ishaq betont jedoch, dass das eigentliche Problem die kolonialistische Machtpolitik gewesen sei, die Einheit der aramäisch sprechenden Bevölkerung sowie der christlichen Gemeinden in Mesopotamien behindert habe: „Wir wurden als Chaldäer, Assyrer und Aramäer bezeichnet. Das Christentum wurde in verschiedene Konfessionen gespalten. Einige von uns gehören der orthodoxen Ostkirche an, andere wandten sich der Westkirche oder dem Katholizismus zu. Doch die Erde dieses Landes spricht von den Assyrern. Das Heimatland der Assyrer lässt sich nicht vernichten. Sie konnten uns nicht brechen, sich diese Erde nicht zerstören lässt. Sie können die Geschichte nicht zum Schweigen bringen und verändern. Wir sind eine Nation der Zivilisation von 7000 Jahren. Soviel können sie nun doch nicht verleugnen.’
Auch die ca. 70-jährige Elenor aus Serêkaniyê spricht von der 7000 jährigen Kultur ihrer VorfahrInnen, die trotz Naturkatastrophen, Besatzungen und Völkermorde bewahrt werden konnte: „Ich bin Chaldäerin. Die Chaldäer sind die Enkel von Nebukadnezar und den großen babylonischen Herrschern. Es gibt verschiedene Jahrtausende alte chaldäische, aramäische und assyrische Gemeinden.“
Die Wurzeln der Armenier in Nordsyrien hingegen gehen auf die Stämme Hayasa-Azzi zurück, die in den Bergen der „Tuspa“ genannten Region am Wan-See lebten. Zusammen mit anderen indigenen Stämmen gründeten sie im ersten Jahrtausend v.u.Z. im Ararat-Gebirge die Nairi-Konföderation. Darauf folgte die Gründung des armenischen Reichs, das sich unter der Herrschaft von König Tigran II. im ersten Jahrhundert v. Chr. im nördlichen Mesopotamien und Anatolien ausbreitete. So entstanden hier auch die ersten armenischen Siedlungen.
Die aramäisch sprechenden Suryoye bildeten die ersten christlichen Gemeinden in Mesopotamien, die durch die römischen Besatzungskräfte verfolgt wurden. Auch unter den ArmenierInnen breitete sich das frühe Christentum schnell aus und wurde im Jahr 301 zur Staatsreligion. Städte, die heute an der türkisch-syrischen Grenze liegen wie Antiochia (Antakia), Edessa (Urfa), Midyat und Nisebin (Nussaybin) wurden nicht nur zu Zentren des frühchristlichen Glaubens sondern auch der Kultur, Philosophie und Wissenschaft. Auch Frauen – wie die Heilige Febronia von Nisbis – spielten eine wichtige Rolle beim Aufbau der frühchristlichen Gemeinden. Febronia wurde von römischen Soldaten brutal zu Tode gefoltert, da sie sich weigerte von ihrem Glauben abzuschwören und Ehefrau eines römischen Generals zu werden. Es wird erzählt, dass aus den Blutstropfen Febronias ein Baum wuchs. Dabei soll es sich um jenen Baum handeln, der heute im Hof des Febronia-Kloster von Himo, einem Vorort von Qamishlo, steht und als heilige Stätte geehrt wird.
Obwohl alle Machthaber von den Arbeiten und dem Wissen der assyrischen und armenischen Akademien, Wissenschaftlern und Intellektuellen profitieren wollten, wurden die christlichen Gemeinden nach der römischen Besatzung auch unter arabischer, mongolischer und osmanischer Herrscherschaft verfolgt. Um ihre Existenz und ihren Glauben zu verteidigen, zog sich im 15. Jahrhundert ein großer Teil der assyrischen Bevölkerung in der hohen Bergregion „Tur Abdin“ zurück, die zwischen Merdin, Amed, Hakkari und Wan gelegen ist. Jedoch waren sie auch hier nicht vor Verfolgung durch das osmanische Reich sicher. Unter dem Kommando von Sultan Abdulhamid verübte die osmanische Armee in den Jahren 1840-96 in dieser Region gezielte Massenmorde an allen Völkern nicht-muslimischen Glaubens. Suryoye, ArmenierInnen und ezidische KurdInnen waren von grausamen Massakern, Deportationen und Zwangsassimilierungen betroffen. Auf diese Weise kamen die Vorfahren vieler christlicher Familien, die heute in Rojava leben, in die Gegenden von Serêkaniye, Dirbesi, Amude, Qamishlo, Tirbesipiye, Derik und Haseke.
Sie wussten damals noch nicht, dass ihnen hier der erste Genozid des 20. Jahrhunderts bevorstand. Elenor berichtet über die Ereignisse, mit denen die Generation ihrer Eltern konfrontiert war: „Als orthodoxe und katholische Christen kamen wir im Jahr 19142 nach Serêkaniyê. Nach den Massakern von Sultan Abdulhamid II hatte der Innenminister des Osmanischen Reiches Talaat Pascha den Befehl erteilt, alle Christen zu vernichten und die Wurzeln der Armenier auszurotten. Als Verbündeter des osmanischen Reiches spielte der deutsche Staat eine große Rolle bei der Umsetzung dieses Plans. Der Genozid von 1915 betraf alle ChristInnen – ohne Unterschied ob Armenier, Assyrer, Aramäer oder Chaldäer. Die Todesmärsche kamen auch nach Serêkaniye. 70.000 Menschen wurden hier in der Nähe ermordet. Hunderttausende wurden auf dem Weg und in der Wüste von Deir-ez Zor, in Shedade und Margada exekutiert. Die AramäerInnen nennen diesen Genozid „Seyfo“ was „Schwert“ bedeutet. Das Schwert war das Kennzeichen der Ottomanen. Sie ermordeten und vergewaltigten Frauen, Mädchen; verübten Verbrechen an Priestern, alten Menschen und Kindern. Einige der jungen Frauen nahmen sich die Ottomanen als Sklavinnen.“3
Die Wunden dieses Genozids konnten nie verheilen. Denn es gab nie Bedingungen unter denen die Verbrecher verurteilt und die Überlebenden von der Wahrheit berichten und sich in Sicherheit fühlen konnten. Das tiefe Trauma wirkte auch in nachfolgenden Generationen fort. Es gibt viele Menschen in Rojava, die sagen “unsere Großmutter war Armenierin”. Aber die Anzahl derer, die sich selbst als ArmenierInnen identifizieren, ist sehr gering. Hierfür können die Angst, die die Generation ihrer Mütter und Grossmütter prägt und die Überlebensstrategien, die diese entwickelten ausschlaggebend gewesen sein. Eine Frau aus Amûde berichtet mit leiser Stimme: „Meine Mutter war sehr still und hatte keinerlei Selbstvertrauen. Sie kam aus der Region Mardin, aus Nordkurdistan. Ihre Mutter war verschwunden als sich der Völkermord an den Armeniern ereignete. Die Familie meines Großvaters väterlicherseits nahm sie auf und verheiratete sie. Aber alle, die sie sahen, sagten: ‘Sie eine Ungläubige. Sie ist eine Armenierin. Sie ist erst später Muslimin geworden.‘ Dieser Schmerz hatte tiefe Auswirkungen auf meine Mutter und uns als ihre Kinder. Meine Mutter konnte nie wieder ihrer eigene Familie sehen. Sie war still und in sich gekehrt. In meiner Kindheit musste ich meine Mutter immerzu weinen sehen.“
Jedoch dauerten nicht nur mentalen und sozialen Auswirkungen des Genozids an, der in den Jahren 1914-23 an der christlichen Bevölkerung des osmanischen Reichs verübt wurde. Orte an denen sie Zuflucht gesucht hatten, wurden zu Austragungsorten von neuen Massakern. Ein Teil der AssyerInnen aus der Region Hakkari war während des Genozids in die Regionen Duhok und Ninova / Mosul geflüchtet, die unter britischer Vorherrschaft standen. Am 7. August 1933 ereignete sich in der Provinz Duhok im Ort Sêmêle ein weiteres Massaker. Schätzungsweise 9000 AssyerInnen wurden bei Massenexekutionen und Dorfzerstörungen in der Mosul-Ebene ermordet. Diese Pogrome veranlassten Suryoye aus den Provinzen Dohuk und Mosul zur erneuten Flucht. Viele wanderten damals nach Nordsyrien aus, das unter französischem Mandat stand. Ator Ishaq beschreibt den Leidensweg der AssyrerInnen, der in die Xabûr-Region führte, folgendermaßen: „Die Osmanen vertrieben uns aus Hakkari; die Engländer aus dem Irak. Einige sagen jetzt, dass es Kurden gewesen seien, die uns bei dem Massaker in Sêmêle getötet hätten. Wenn Kurden daran beteiligt waren, dann haben sie nicht getötet, weil sie Kurden waren, sondern weil sie von den Briten und Türken dazu aufgestachelt worden waren. Es gab einige Kurden mit einer schwachen Moral, die sich funktionalisieren haben lassen. Jedoch stammten das Geld und Waffen, die bei diesem Massaker verwendet wurden alle vom osmanischen Staat und aus England.’
Erneuter Wiederaufbau des Lebens in der Xabûr-Region
Die AssyrerInnen, die das erneute Massaker überlebt hatten, wurden von der französischen Mandatsmacht hauptsächlich in der Region Til Temir und in Zeltlagern entlang des Xabûr-Flusses angesiedelt. Erst später bauten sie sich dann ihre eigenen Häuser, Kirchen und Dörfer auf. Ator Ishaq erzählt uns wie ihre Großeltern die Ankunft im Xabûr-Gebiet erlebten: “Mein Großvater und meine Großmutter erzählten uns, dass sie nur für kurze Zeit gekommen waren, um nach einiger Zeit wieder an ihren Ort im Irak zurückzukehren. Mit der Zeit jedoch wurden sie hier sesshaft und bauten sie ihr Leben auf. Sie bauten Lehmhäuser und begannen das Land zu beackern. Im Laufe der Zeit vergaßen sie ihre Rückkehrabsichten und wurden zu „syrischen Assyrern“. Die AssyrerInnen wurden im Bezirk Til Temir verteilt. Jeder Stamm benannte seinen Ort seinem Ursprungsort entsprechend. Zum Beispiel diejenigen, die aus einem hoch gelegenem Orten im Irak gekommen waren, nannten ihr Dorf “Ser Sibiko” oder “Til Tawil”. Das bedeutet “hoher Ort”. Wir haben einen Stamm der Tiyarê heisst und aus der Tiyarê Gegend stammt. Deshalb ist der assyrische Name von Til Temer “Tiyarê“. So hat der Name eines jeden der 34 assyrischen Dörfer entlang des Xabûr Flusses seine eigene Bedeutung.’
Madlein ist aus dem Dorf Helmond. Dieses Dorf, das vom syrischen Staat unter dem Namen Til Cuma geführt wird, hat seinen assyrischen Namen von dem Heimatdorf ihrer Eltern im Irak erhalten. Sie und ihre Schwiegermutter erzählen uns im Juni 2017 davon, unter welchen Bedingungen ihre Familie in Helmond ihren Neuanfang bewerkstelligt hatte. Die 70-jährige Schwiegermutter Madleins erinnert sich an die Anfangszeit und das damalige Zusammenleben der Völker in Xabûr-Region: „Wir hatten keinen Strom und kein Wasser. Wir sind zum Xabûr gegangen, um in Blechkanistern Wasser zu holen. Ich hatte acht Kinder. Außer zwei Monate im Jahr habe ich den Vater meiner Kinder (meinen Ehemann) nie gesehen. Denn er hat als Traktorfahrer an verschiedenen Orten gearbeitet. Ich hatte eine Kuh und eine Schafherde. Ich habe auf den Bauwollfeldern gearbeitet. Wir sind zu Fuß losgegangen, um Gras als Futter für unsere Tiere zu schneiden. Wir haben alle Arbeiten selbst verrichtet. Meine Kinder waren noch klein. Im Frühling haben wir unsere Schafe auf die Hochwiesen der Kezuwan Berge gebracht und gemolken. Die arabischen Hirtenfamilien hatten Zelte aus schwarzer Wolle. Sie haben unsere Schafe mit ihren Herden zum Weiden mitgenommen. Wir sind bei ihnen geblieben und haben gemeinsam gearbeitet. Die Frauen haben sich um die Milch und andere Produkte der Schafe gekümmert. Wir haben die Milch erhitzt und verarbeitet. Wir haben handgemachten Jogurt, Käse, Butter und Tore4 produziert.”
Madlein fährt fort: „Als die AssyerInnen hier ankamen, war dieser Ort ein unbesiedeltes Waldgebiet. Nachdem sie es zum Leben erweckt, Dörfer und Städte errichtet hatten, veränderte der Staat die demografische Zusammensetzung in diesem Gebiet. Alles wurde Arabisiert. Das Baath Regime stellte arabische Ortsschilder auf und siedelte arabische Bevölkerung an.
Anfangs gab es keine Probleme zwischen den Menschen verschiedener Nationalitäten. Alle lebten zusammen und waren gleich. Das Leben war einfach, aber schön und friedlich. Dies zeigt, dass die Menschen in der Vergangenheit problemlos zusammenlebten. Wir hatten ein glückliches Leben. Doch das Baath-Regime spaltet die Menschen; einige wurden bevorzugt, andere diskriminiert.“
Als religiöse Minderheit konnten die Suryoye in Syrien zwar Kirchen, Gemeindehäuser und Schulen gründen. Jedoch wurde dies nur solange geduldet, wie sie sich als „syrische Christen“ und nicht als eigene Nation definierten. Insbesondere ab den 1980er Jahren wurde von unterschiedlichen Seiten Druck auf die Suryoye ausgeübt, um sie zur Auswanderung aus der Xabûr-Region und insgesamt aus Syrien zu bewegen: Einerseits verfolgte das syrische eine arabische Assimilationspolitik. Andererseits verringerten die Staudammprojekte des türkischen Staates das Wasservolumen des Xabûrs derart, dass ganze Ernten vertrockneten. Fortan konnten die Menschen in der Xabûr-Region mit der landwirtschaftlichen Produktion nicht mehr ihren Lebensunterhalt sichern. Gleichzeitig öffneten europäische Länder ihre Türen für Einwanderer, da sie billige Arbeitskräfte benötigten. Dies führte dazu, dass schon vor Beginn der Angriffe von El Nusra und dem IS aus vielen assyrischen Familien Angehörige ins Ausland abwanderten. Eine ähnliche Situation trifft auch für viele ezidische Familien in Nordsyrien zu.
Madlein bezeichnet die gezielte Entvölkerungs- und Entwurzelungspolitik als einen kulturellen Genozid. Sie betont, dass die mit Genoziden konfrontierten Völker Mesopotamiens ihre eigenen Verteidigungskräfte organisieren müssen: „Vor allem das assyrische und ezidische Volk müssen sich selbst verteidigen können. Besonders in militärischer Hinsicht ist das nötig, denn sie haben beide große Opfer erbracht und Genozide erlitten; 37 Völkermorde wurden gegen das assyrische und 73 gegen das ezidische verübt. Keine anderen Völker haben eine Geschichte der Massaker in diesem Ausmaß erlebt. Aus diesem Grund wurden wir in alle der Welt zerstreut. Väter und Söhne, Mütter, Töchter und Schwestern wurden auseinander gerissen. Jede/r lebt alleine an einem anderen Ort, in einem anderen Land. Wie lässt sich das anders bezeichnen als ein Genozid?! Wenn wir so weit voneinander entfernt, vereinzelt leben; wenn unsere Sprache, Kultur und Traditionen verschwinden und assimiliert werden, dann ist das ein Genozid! Wir können nur noch per Telefon miteinander sprechen, aber nicht mehr zusammenleben. Es ist schwerer voneinander entfremdet leben zu müssen als zu sterben.“5
Als wir 2017 assyrische Frauen in der Stadt Til Temir und in den umliegenden Dörfern trafen, mit ihnen Tee tranken und sprachen, war in ihren Wohnzimmern und Institutionen die assyrische Flagge so aufgehängt, dass jeweils ein roter und ein blauer Streifen auf der Innenseite der dreifarbigen Farbbänder nach oben zeigte. Ator Ishaq erklärte uns, dass die Symbole und Farben ihrer Fahne die assyrische Geschichte, die Natur und den Zustand ihres Landes zu erkennen geben: „Die vier Farbbänder, die jeweils aus gewellten roten, weißen und blauen Streifen bestehen gehen in der Mitte der Fahne aus der Sonne und einem vier-zackigem Stern hervor. Die vier Farbbänder und die vier Sternstrahlen repräsentieren die vier Jahreszeiten und die vier Himmelsrichtungen. Die roten Streifen symbolisieren Blut, die weißen den Frieden und die blauen das Wasser der Flüsse Xabûr, Euphrat und Tigris. Insgesamt ergeben die drei Farben der vier Farbbänder 12 Streifen, die die 12 Monate des Jahres repräsentieren. Die Anordnung der drei Farben ist in den vier Farbbändern jeweils unterschiedlich. Entsprechend der Situation, in der sich das Land befindet gibt es drei Möglichkeiten unsere Fahne aufzuhängen: Wenn die roten Streifen beider Farbbändern auf der oberen Seite der Fahne innen sind, wird mitgeteilt, dass wir uns im Kriegszustand befinden. Sind hingegen die blauen Streifen beider Farbbänder im oberen Bereich zu sehen, dann heisst das, dass wir Frieden haben. Wenn hingegen – so wie jetzt – ein roter und ein blauer Streifen auf der Innenseite nach oben zeigen, so bedeutet das, dass wir uns im “Normalzustand” befinden, d.h. es ist weder Krieg noch Frieden.”
Diese beiden Farben, die Ator Ishaq als “Normalzustand” definierte, waren im Sommer 2017 in Til Temir deutlich wahrnehmbar: Die Spuren des Krieges, die die Angriffe des IS hinterlassen hatten, waren im Stadtbild noch teilweise sichtbar. Zugleich waren sie in den Begegnungen mit Menschen spürbar, die von ermordeten, verschleppten oder geflohenen Verwandten, Nachbarn und Bekannten berichteten. Doch im selben Augenblick verbreiteten die Frauen, die sich mit den Menschen in ihren Dörfern und Nachbarschaften organisierten, die ihre bombenbeschädigten Häuser und Schulen wieder herrichteten, die für die Sicherheit der Bevölkerung Zufahrtsstrassen bewachten, ihre Felder und Gärten bestellten, ihre Verwandten zur Rückkehr in die Xabûr Region aufforderten und neue Zukunftspläne für sich und ihre Kinder schmiedeten, die Hoffnung, dass der Frieden sicher bald kommen werde.
Auch die armenische Delegierte im Bezirksrat von Derik, Karima Betha, sagte in einem Gespräch im August 2019: “Wir haben mit dieser Revolution eine neue Seite aufgeschlagen. Manchmal nähern sich einige Menschen aus der älteren Generation immer noch mit Misstrauen und Angst an. Aber die neue Generation ist anders. Insbesondere Frauen in unserer Gemeinschaft ein grosses Selbstvertrauen gewonnen. Wir gehören alle zusammen. Wir haben gelernt, dass es nicht länger notwendig ist, dem Willen des Mannes zu folgen, nur ihm zu dienen und ihm zuzuhören. Frauen haben sich verändert und haben ihre eigene Meinung. Jetzt können wir reden und Politik machen. Wir könne auf eigenen Füssen stehen und uns verteidigen. Unsere sozialen Beziehungen zu den kurdischen und arabischen Familien sind jetzt viel intensiver. Wir leben alle zusammen und wissen dass wir eine glückliche Zukunft gemeinsam gestalten können. Wenn wir eins werden, werden wir unser Ziel erreichen, dann kann uns keine Macht der Welt kontrollieren und unterdrücken. Wenn ein Baum allein und schwach ist, kann er leicht durch einen Sturm entwurzelt werden. Aber wenn viele starke Bäume nebeneinander stehen, bleiben sie fest verwurzelt stehen.“
Dieses Selbstbewusstsein ist es, das den Frauen aus den christlichen Gemeinschaften sowie kurdischen und arabischen Frauen die Kraft gibt, heute gemeinsam den Widerstand gegen neue Völkermordpläne der Türkei im Xabûr-Gebiet und anderen Gebieten Nord- und Ostsyriens zu organisieren.
Seit dem 9. Oktober 2019 zeigen wieder zwei rote Streifen der Farbbändern auf der assyrischen Flagge nach oben. Über 500 ChristInnen flohen bereits in den ersten Wochen des Krieges aufgrund der andauerden Drohnen- und Bodenangriffe von Til Temir nach Haseke. Madlein, die von sich selbst sagte, dass sie bis 2012 als sie sich dem assyrischen Verteidigungsrat anschloss nur eine “einfache Hausfrau und Mutter” gewesen sei, beteiligt sich nun wieder an aktiv an der Verteidigung der Xabûr-Region. Sie sieht das als ihre Verantwortung, denn „als assyrisches Volk, insbesondere als Frauen, sind wir immer wieder vielen Massakern und Grausamkeiten ausgesetzt gewesen. Seit dem schwarzen Tag, als die terroristischen Gruppen des IS am 23. Februar 2015 unsere friedlichen Dörfer im Xabûr-Gebiet angegriffen haben, wurden die Herzen der friedlichen Menschen hier in Angst und Schrecken versetzt. Wir haben die Massaker, die Zerstörung und Plünderungen, die Verschleppungen und Gefangenschaft sowie die Schändung unserer heiligen Orte noch vor Augen. Das sind Bilder, die wir nie vergessen werden.
Jetzt stellen die Besatzung und die Angriffe des türkischen Staates unter Erdogan und seiner verbündeten Gruppen eine große Gefahr dar. Insbesondere unter den assyrischen, aramäischen, chaldäischen und armenischen Völkern in der Region, die von den Osmanen massakriert wurden wie während des Seyfo und in Sêmêle, lösen diese Angriffe große Angst aus. Die heutige Gefahr ist ernster und größer. Wenn der türkische Staat und seine terroristischen Gruppen ihre Angriffe und Verbrechen fortsetzen, werden wir einen Genozid an den indigenen Völkern und die Zerstörung Jahrtausende alter Zivilisationen erleben.“
Sie betont, dass die Gefahr von erneutem Genozid und Feminizid alle Völker und Frauen in der Region betreffe und nur durch einen gemeinsamen Widerstand gestoppt werden kann: „Unsere Ängste und Sorgen gelten nicht nur dem assyrischen Volk, sondern der gesamten Bevölkerung und allen Gemeinschaften in der Region, seien es AssyrerInnen, Suryoye, ArmenierInnen, ChaldäerInnen, KurdInnen oder AraberInnen. Es gibt keinen Unterschied zwischen Muslime und ChristInnen. Denn wenn der Feind ein Gebiet angreift, unterscheidet er letztendlich nicht mehr zwischen AssyrerInnen, KurdInnen oder AraberInnen. Er plündert, zerstört, verbrennt und vernichtet alles. Der Feind kennt keine Gnade, weder mit Menschen noch mit Steinen. Er unterscheidet nicht zwischen der Zerstörung einer Kirche oder einer Moschee. (…)
Als assyrische Frauen rufen wir alle Frauen- und Frauenrechtsorganisationen auf, sich gegen diese Besatzung zu stellen. Wir fordern, dass der türkische Staat unsere Heimat Syrien verlässt. Denn wir sehen ihn als eine Besatzungsmacht, die unsere Existenz gefährdet und unseren Verbleib in unserer Heimat bedroht.“6
Wenn wir verhindern wollen, dass die Verbrechen der Genozide des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert wiederholt werden, müssen wir diesem Aufruf Gehör schenken und handeln. Wenn wir nicht eines Tages wie die Generation unserer Großeltern die Mitschuld für historische Verbrechen gegen die Menschlichkeit tragen wollen, dann können wir nicht zum gleichgültigen Alltag übergehen. Bis zur Beendigung des Erdogan Faschismus und der türkischen Besatzung in Nord- und Ostsyrien muss unser Widerstand weitergehen, noch breiter und lauter werden!
29. November 2019
Andrea Benario
Erstveröffentlichung des Artikels in Kurdistan Report Nr. 207 [link]
1Gespräch mit Ator Ishaq in Til Temir am 21-06-2017.
2Am 26. Oktober 1914 hatte Talât Pascha die Deportation der Chaldäer aus der Region Tur Abdin / Hakkari angewiesen.
3Gespräch am 19-06-2017 in Serêkaniye
4Eine Form von Frischkäse
5Gespräch im Dorf Helmond, Region Til Temir am 22-06-2019
6Interview mit Madlein in Til Temir, November 2019