Ein Gefängnis unter freiem Himmel

Wie so viele andere Internationalist*innen aus der ganzen Welt beschlossen Genoss*innen aus ganz Italien, aktiv an der Revolution in Rojava Teil zu nehmen, indem sie in den Norden Syriens reisten, um sich an verschiedenen Arbeiten sowohl im militärischen als auch im sozialen Bereich zu beteiligen.

Nur ein Jahr nach dem Tod von Lorenzo Orsetti, einem florentinischen Internationalisten, der im Kampf gegen den Islamischen Staat in der Region Baghuz in der Wüste Deir Ez Zor in Ostsyrien gefallen ist, hat die Abteilung für Präventionsmaßnahmen des Turiner Tribunals entschieden, dass die ehemalige Kämpferin der YPJ, Maria Edgarda Marcucci, „gefährlich für die Gesellschaft“ ist. Es ist ein großer Widerspruch, dass Lorenzo Orsetti, alias Tekoşer Piling, von den Medien, italienischen Persönlichkeiten und einem großen Teil der öffentlichen Meinung als Nationalheld behandelt wurde, während andere Freiwillige sowie Kämpferinnen und Kämpfer langwierigen Gerichtsverfahren ausgesetzt waren.

Eddi: Als Tekoşer im Kampf fiel, twitterten einige Politiker Kondolenz-Tweets, während privat die staatliche Bürokratie die Feier einer öffentlichen Gedenkfeier mit allen Mitteln behinderte und all jene beleidigte, die einem Freiheitskämpfer gedenken und würdigen wollten. Darüber hinaus ist Italien einer der wichtigsten kommerziellen und politischen Partner der Türkei und stolzer Lieferant der meisten ihrer Kriegshubschrauber. Italien hat, wie alle anderen Länder auch, die demokratische Konföderation Nord- und Ostsyrien nie als politisches Subjekt anerkannt. Frauenbewegungen und -kämpfe wurden zum Schweigen gebracht, und was übrig blieb, war das sexistische und orientalistische Bild der YPJ-Kämpferinnen, ohne ein einziges Wort darüber, wofür sie kämpften.

Aber ein Teil der Bevölkerung, der sich an das internationale Komplott und die Zeit erinnert, die Serokatî (Abdullah Öcalan) in Rom verbrachte, kannte den kurdischen Kampf bereits. Mit dem Widerstand von Kobane (ver)folgten viele weitere diesen Kampf. Mehr und mehr wurden sie sich der Situation im Mittleren Osten bewusst. Das Opfer der Internationalist*inn brachte viele Menschen, die noch weit davon entfernt waren, zu verstehen, was vor sich ging, zum Nachdenken: Warum sollte etwas, das so weit weg geschah, für jemanden in einem anderen Teil der Welt so wichtig sein? Warum sollten sie alles dafür geben? Der Märtyrertod von Menschen wie Tekoşer oder Helîn Qerecox bedeutete und bedeutet Tausenden von jungen Menschen sehr viel. Ich nahm an Dutzenden von Konferenzen und Veranstaltungen teil, auf denen die Menschen erzählten, wie sie durch ihre Geschichten etwas über den demokratischen Konföderalismus, den Kampf der Frauen und den Widerstand der Menschen in Kurdistan lernen konnten und wie all dies ihnen Hoffnung auf Veränderungen gab, die sie für verloren hielten oder nie hatten.

Lorenzo Orsetti (Tekoşer Piling oder auch Orso) – Italienischer Internationalist, der an der Baghuz-Front gefallen ist.

Maria Edgarda Marcucci, bekannt als Eddi, war die einzige von insgesamt fünf InternationalistInnen, die dem Sondergesetz der „besonderen Sicherheit“ unterlag, nach dem sie als „sozial gefährlich“ eingestuft wurde. Dieses Sondergesetz ist im so genannten Rocco-Code enthalten, einer Quelle des italienischen Rechts, die direkt vom Faschismus Mussolinis geerbt wurde und immer noch in Kraft ist. Dieses Gesetz stützt sich nicht auf Anschuldigungen wegen angeblich begangener Verbrechen, sondern analysiert die Persönlichkeit einzelner Personen, die von der Polizei „vorgeschlagen“ (und daher nicht „angeklagt“) werden, und macht Voraussagen über ihr künftiges Verhalten. Um die Verbrechen, die sie begehen könnten, zu verhindern, werden jene „vorgeschlagene“ Personen strengen Freiheitsbeschränkungen unterworfen.

Gegenwärtig ist es Eddi, der, ohne eines Verbrechens verurteilt worden zu sein, verboten wird, ihre Gemeinde zu verlassen sowie ihr Pass und Führerschein eingezogen wurden. Sie muss zwischen 21.00 Uhr und 7.00 Uhr zu Hause bleiben. Es ist ihr verboten, sich mit mehr als drei Personen gleichzeitig zu treffe. Demnach auch nicht auf eine öffentliche Veranstaltung zugehen oder einer solchen teilzunehmen. Sie muss zudem jederzeit ein rotes Notizbuch bei sich tragen, in das jeder Angehörige der staatlichen Sicherheitskräfte jederzeit aufschreiben können soll, was sie gerade macht, mit wem und wo sie sich aufhält. All diese Maßnahmen müssen während eines Zeitraums von zwei Jahren strikt eingehalten werden, was in Wirklichkeit die Verurteilung zu einem Gefängnis unter freiem Himmel bedeutet.

Maria Edgarda Marcucci (Eddi) – Italienische Internationalistin, ehemalige Kämpferin der YPJ, nahm am Widerstand in Afrin teil.

Der Unterschied, Eddi zu zwei Jahre unter dem besonderen Überwachungsgesetz zu verurteilen und den Rest ihrer Genossen nicht, besteht laut den Richtern Giorgio Gianetti, Daniela Colpo und Luciana Dughett darin, dass Edd iihre politische Tätigkeit nie eingestellt hat, nicht einmal während der Zeit, in der sie von der Abteilung für Präventionsmaßnahmen verfolgt wurde. Tatsächlich konzentrierten sich die meisten der richterlichen und staatsanwältlichen Argumente auf die Teilnahme Eddis am 25. November 2019 an einem Protest gegen die türkische Invasion in Rojava und die Untertützung des italienischen Staates und der nationalen Rüstungsfirmen bei der Invasion des völkermörderischen Staates Türkei.

Angeklagt durch den Gerichtshof von Turin

Am 9. Oktober 2019 startete die türkische Armee und ihre dschihadistischen Verbündeten eine brutale Invasion in den Regionen Serekaniye und Gire Spi im Norden Syriens, bei der rund 400.000 Menschen vertrieben und Hunderte von Zivilisten und KämpferInnen getötet wurden. Der türkische Staat setzte Luftbombardierungen, schwere Waffen und chemische Waffen gegen militärische Stellungen, aber auch gegen ZivilistInnen ein, besetzte hunderte von Kilometern syrischen Territoriums und vertrieb kurdische, suryoye, assyrische, arabische, armenische und viele weitere Familien, die in ihrem eigenen Land zu Flüchtlingen geworden sind.

In diesem Zusammenhang beschloss Eddi zusammen mit 12 weiteren Personen, das ‚Aerospace and Defense Meeting‘ zu blockieren, eine Fachmesse zum Marketing für die Entwicklung der Luft- und Raumfahrt sowie Waffenverkäufe, die ein spezielles Panel zum Austausch von Militärtechnologien zwischen Italien und der Türkei hatte. Die 13 AktivistInnen störten das Büro des Generalsekretärs und entrollten ein Transparent mit der Aufschrift „Kein Handel mit der mörderischen Türkei! Erdogan-Terrorist / Nein zu Luft- und Raumfahrt- als auch Verteidigungstreffen / Nein zu Waffenverkäufen / Nein zu komplizierten Regierungen / Riseup4Rojava“. Eddi trug ein Megafon bei sich, mit dem sie die Unterstützung und Beteiligung des italienischen Staates an dem Massaker an den Kurden in Rojava aufgrund des Verkaufs von Militärtechnologie an die Türkei anprangerte, und steckte auch einige Monitore aus, die Propaganda für das Ereignis machten.

Eddi: Laut gesetzlichem Erlass war die Zeit der auschlaggebende Faktor. Auf dem Papier bin ich die einzige, die die Aktivitäten fortgesetzt hat, durch die jeder von uns als „sozial gefährliches“ Subjekt behandelt werden könnte. Aber da diese Aktivitäten unsere politische Verpflichtung zu sein scheinen, ist es unmöglich, die Kriterien zu verstehen, nach denen sie auswählten, was oder wer gefährlich sein könnte und was oder wer nicht. Bei den vom Staatsanwalt erwähnten Aktivitäten handelt es sich in den meisten Fällen um recht kleine Angelegenheiten – Verteilung von Flugblättern, Konferenzen, Solidaritätskundgebungen oder -veranstaltungen – oder Massendemonstrationen, bei denen es sich allein um unsere Anwesenheit dreht. Keiner meiner Genossen hat aufgehört, eines dieser Dinge zu tun. Wenn es also nicht gefährlich ist, wenn sie es tun, warum ist es dann gefährlich, wenn ich es tue? Wie gesagt, das Papier gibt seine eigenen Antworten, aber es wäre ein Fehler, diesen Fall zu analysieren und dabei nicht auf ein größeres und systematisches Muster einzugehen, was deutlich wird, wenn wir einige Aspekte miteinander verbinden.

Eddi kämpft seit vielen Jahren in der italienischen autonomen Linken, in verschiedenen sozialen Bewegungen wie der Kampagne „Non Una di Meno“ gegen männliche Gewalt, aber auch bei den Protesten gegen den TAV (Hochgeschwindigkeitszug) in der Region Turin. Sie ist eine Frau, die mit ihren Taten und Worten das Engagement für die Suche nach einer gerechteren, egalitären und freien Welt verkörpert und die sich nicht von einem ungerechten Rechtssystem einschüchtern lässt, das sie als Sündenbock benutzen will, um Angst unter Frauen zu verbreiten, die sich entscheiden, gegen das zu rebellieren, von dem sie wissen, dass es falsch ist.

Eddi: Bis jetzt denke ich, ist es klar, dass diese beiden Ansichten unvereinbar sind. Sie können einfach nicht kombiniert werden; und wenn du eine Frau sind, ist es noch klarer. Ich gebe ein Beispiel, nur um zu erklären, was ich meine: In Italien tötet alle 72 Stunden ein Mann eine Frau, niemand könnte diese Zahlen mit Einzelfällen verwechseln, aber es ist die einzige Art und Weise, in der Femizide von den Institutionen eingerahmt und analysiert werden. Das ist das Ausmaß der Verachtung, die dieser Staat den Frauen entgegenbringt. Sie machen uns unsichtbar oder stellen uns zu sehr bloß, je nachdem, wie sie uns benutzen wollen, aber keine der gängigen Frauenrollen beinhaltet Wahlfreiheit. Sie wählen mich als einzige Frau aus dem gleichen Grund, aus dem sie so wenig Respekt vor jeder Frau in diesem Land zeigen, die Vereinigung von wirtschaftlicher, rassischer und sexueller Ausbeutung. Zum Glück kämpfen in diesem Land nichtstaatliche politische Subjekte für ein Weltverständnis, das die Zusammenhänge aufzeigt und es wagen, sich eine andere Welt vorzustellen und aus einer eigenen Perspektive zu erschaffen.

Ich werde die mir auferlegten Einschränkungen von vornherein nicht akzeptieren. Natürlich organisieren wir eine spezifische Kampagne gegen diese besondere Überwachung, wir werden zu Solidaritätsaktionen aufrufen (aufgrund der aktuellen Situation, die es unmöglich macht zu Demonstrationen durchzuführen, rufen wir dazu auf Transparente und Fotos zu machen), aber immer und vor allem in dieser Zeit der Quarantäne besteht die Hauptarbeit darin, unsere Verbindungen und unsere Organisierung zu nutzen. Wir alle können diese Zeit der Quarantäne nutzen, um das Wissen und die Diskussion über die Revolution in Rojava und die Ideologie zu verbreiten und zu vertiefen, um die Texte über die Jineolojî und Öcalan breiter und mehr zu teilen, um das Andenken an unsere Märtyrer*innen/Gefallenen Freund*innen zu würdigen und zu stärken, damit wir und andere ihrem Lebensbeispiel folgen.

Lassen wir die Flamme der Hoffnung und der Revolution brennen, wo immer wir sind!

Foto von italienischen InternationalistInnen in Rojava

Artikel im Orginial auf Spanisch von Arîn Helîn

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