Lasst uns zusammenhalten und gemeinsam kämpfen! – Interview mit der “100 Reasons” Kampagne

Weltweit sehen wir die Zahl der Feminizide in den letzten Jahren weiter ansteigen. Die gezielten Angriffe gegen Frauen in ihren unterschiedlichsten Formen nimmt immer weiter zu und vor allem Frauen, die dazu nicht still schweigen, ihre Stimme erheben, sich organisieren und Widerstand leisten – Frauen, die für ihre Rechte und Freiheit kämpfen – werden zur direkten Zielscheibe der Angriffe.

Frauen wie Hevrin Khalaf, Zehra Berkel, Hebun Xelil und Dayika Emine werden gezielt vom türkischen Staat und seinen Verbündeten ermordet, da sie mit ihren Kämpfen die Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien weiter voran treiben, was der faschistischen Politik des türkischen Staates, die auf eine rassistische und patriarchale Mentalität fusst, ein Dorn im Auge ist.

Von Europa aus startete die kurdische Frauenbewegung TJK-E nun die Kampagne “100 Gründe Erdogan zu verurteilen”. Mit Yvonne Heine vom Kurdischen Frauenbüro für Frieden, CENÎ e.V., welches die Kampagne aktiv unterstützt, führten wir ein Interview.

Kannst du die Kampagne “100 Gründe Erdogan zu verurteilen” kurz vorstellen? Was ist das Ziel dieser Kampagne und wen wollt ihr damit erreichen?

Die Kampagne wurde am 25.11.2020 gestartet, am internationalen Kampftag gegen Gewalt an Frauen. Die TJK-E hat dieses Datum gewählt, um allen Frauen zu zeigen, dass wir uns gegen die Gewalt wehren können und dass wir uns damit niemals abfinden werden. 100 ermordete Frauen, 100 Gründe für 100.000 Unterschriften zur Verurteilung des Frauenmörders Erdogan! Die Kampagne zeigt beispielhaft und ganz konkret anhand der Lebensgeschichten von 100 Frauen, die gemeinsam mit Aktivistinnen vor Ort ausgewählt wurden, dass die Politik von Erdogan und der AKP/MHP Koalition eine frauenmörderische Politik ist. Wir haben dazu die Hintergründe der Morde an den Frauen recherchiert und dokumentiert. Wir haben außerdem Hintergrundinformationen über die Entwicklungen der Frauenpolitik der AKP von ihrem Amtsantritt bis heute zusammengetragen. Diese Informationen finden sich auf der homepage der Kampagne unter www.100-reasons.org.

Bei der Recherche haben wir festgestellt, wie wenig und wie oberflächlich über die Morde an Aktivistinnen, Politikerinnen und Frauen im Allgemeinen berichtet wird. Diese Morde werden immer als Randnotiz oder Nebeneffekt dargestellt. Fast nie wird über das Leben der ermordeten Frauen berichtet, über ihre Ziele, ihre Entscheidungen, ihre Aktivitäten. Obwohl Forschungen zu Hintergründen der Morde an Frauen aufgedeckt haben, dass sie in den allermeisten Fällen dann passieren, wenn eine Frau ihren eigenen Willen entwickelt und sich aus ihrer unterdrückten Rolle befreien will – sei es zu Hause oder im öffentlichen Leben – werden die Umstände des Mordes nicht dargestellt. Als wäre es normal, dass Frauen umgebracht werden. Als hätten Frauen gar kein Recht auf ein eigenes, selbstbestimmtes Leben. Uns ist aufgefallen, wie sehr heute noch immer die Leben von Frauen als weniger wichtig wahrgenommen werden. Beim Zusammenbringen der Geschichten der Frauen haben wir zudem gemerkt, wie systematisch diese Gewalt ist und wie viele Frauen eigentlich ermordet wurden. Und dennoch werden die Morde in den Medien als individuelle Tat, als Einzelfälle, dargestellt. Wenn wir aber das Ganze betrachten, so können wir die Systematik der Morde erkennen, die Muster dahinter. Ich muss sagen, dass es uns unheimlich weh getan und wütend gemacht hat, diese 100 Geschichten von ermordeten Frauen in ihrer geballten Form vor Augen zu haben. Es ist so viel, dass ein menschliches Herz das irgendwann gar nicht mehr fassen kann. Allein das zeigt eigentlich schon die Unmenschlichkeit des heutigen Systems und die Notwendigkeit, dass wir dieses System so schnell wie möglich überwinden. Denn wir wollen keinen einzigen Mord mehr, wir wollen keine einzige mehr weniger werden!

Ein wichtiges Ziel der Kampagne ist es deshalb, diese Morde und die feminizidale Politik sichtbar zu machen, offen zu legen und zu skandalisieren. Denn es ist wirklich ein Skandal, dass sich die EU nun einem Erdogan wieder anbiedert, der so viele Morde an Frauen zu verantworten hat. Es ist ein Skandal, dass die USA sog. Friedensverhandlungen mit den Taliban führen, ohne ein Wort über die Verbrechen zu verlieren, die an den afghanischen Frauen begangen wurden! Es ist ein Skandal, dass in Genf u.a. mit Dschihadisten Verhandlungen über die Neugestaltung Syriens geführt werden, während die Frauen, die trotz der ganzen Gräuel, die sie erlebt haben nie aufgegeben haben und stattdessen Ideen für ein friedliches, vielfältiges und würdevolles gesellschaftliches Miteinander entwickelt UND umgesetzt haben, davon ausgeschlossen sind!

Die Kampagne läuft ja jetzt schon seit ca. 2 Monaten. Außerdem fällt sie aufgrund der Corona-Pandemie in eine für uns alle sehr schwierige und neue Zeit. Könnt ihr ein kurzes Zwischenresüme ziehen?

Wir haben gemerkt, dass die Kampagne genau den Geist der Zeit getroffen hat. Alle Frauen, mit denen wir beim Unterschriften sammeln in Kontakt treten, sei es nun per Telefon, Mail oder auf der Straße, zeigen großes Interesse und wollen sich mit großer Begeisterung an der Kampagne beteiligen. Natürlich ist es auch schwierig, unter Corona Bedingungen ins Gespräch zu kommen, Kontakte aufzubauen und im öffentlichen Leben präsent zu sein. Wir haben auch überlegt, ob wir die Kampagne unter diesen Umständen überhaupt durchführen können oder nicht. Aber wir haben ganz klar gesagt, dass Corona kein Grund sein darf, unseren Kampf zurückzufahren oder gar aufzugeben. Denn während viele zivilgesellschaftlichen Einrichtungen und Initiativen ihre so wichtigen Arbeiten einstellen oder auf ein Minimum reduzieren, gehen die Kriege und Kriegsvorbereitungen und die systematische Gewalt an Frauen weiter. Vielmehr nehmen sie sogar zu. Gerade aus diesem Grund ist es wichtig, den Kontakt zueinander immer aufrecht zu erhalten, sich zu vernetzen, zu organisieren und keine Frau allein zu lassen. Denn entgegen der Propaganda der Staaten ist die gegenseitige Unterstützung, das Füreinander und Miteinander das, was uns Halt gibt, atmen lässt und am Leben erhält!

In der kurzen Zeit, die unsere Kampagne nun läuft, sind bereits mehrere weitere Frauen auf brutale Art und Weise ermordet und misshandelt worden. Nur wenige Tage nach Beginn der Kampagne mussten wir erfahren, dass in Elîh eine junge kurdische Frau von mind. 27 Männern, darunter auch Polizisten und Offiziere, über Monate hinweg systematisch vergewaltigt wurde! Ende Dezember erreichte uns die Nachricht von der Ermordung der Aktivistin Karima Baloch, die unaufhaltsam für ein unabhängiges Belutschistan kämpfte. Am 16. Januar erfuhren wir, dass die Armenierin Alvard Tovmasyan, die im Oktober 2020 entführt wurde, mit abgeschnittenen Händen und Füßen tot aufgefunden wurde. Vor wenigen Tagen, am 22. Januar 2021, wurden die Ko-Vorsitzende des Zivilrats der Gemeinde Til Sheir, Sada al-Harmoush, und ihre Stellvertreterin Hind al-Khedr, die gleichzeitig zuständig für das Ökonomie-Komitee war, von IS-Banden in der Region Heseke entführt und enthauptet. Darüber hinaus werden tagtäglich Frauen auf der ganzen Welt umgebracht. Der Feminizid hört nicht auf und wir müssen auf jeden Mord antworten, indem wir unsere Organisierung und unseren Kampf verstärken!

Warum ist es wichtig sich an der Kampagne aus allen vier Teilen Kurdistans zu beteiligen?

Die Kampagne bietet Frauen aus allen vier Teilen Kurdistans und der Diaspora die Möglichkeit, ihre Stimmen gemeinsam mit den Stimmen von Frauen weltweit zu einer großen Kraft werden zu lassen und damit sowohl die breite Öffentlichkeit, als auch die internationalen Institutionen zu erreichen. Leider funktioniert die patriarchale und koloniale Weltordnung ja so, dass Frauen, die am meisten betroffen sind von der kriegerischen, ausbeuterischen und feminizidalen Politik der westlichen Nationalstaaten am wenigsten gehört werden. Wir möchten mit dieser Kampagne eine Möglichkeit schaffen diejenigen Frauen, die sonst viel zu wenig gesehen, gehört und beachtet werden, in den Vordergrund zu stellen. Wir möchten Verbindungen herstellen zwischen Kämpfen gegen das feminizidale System, die überall geführt werden. Damit die Kampagne erfolgreich wird und damit deutlich wird, dass sie die Unterstützung der Frauen in allen Teilen Kurdistans hat, ist es natürlich wichtig, dass sich auch so viele Frauen wie möglich aus allen Teilen Kurdistans beteiligen. So nehmen beispieslweise auch die Frauen sowie die Frauenbewegung Kongra Star in Rojava / Nord- und Ostsyrien an der Kampagne teil, sammeln Unterschriften und unterstützen die Verbreitung der Kampagne auf arabisch unter anderem über die sozialen Medien. Zu sehen, wie unsere Mitstreiterinnen in Kurdistan Unterschriften sammeln, mutig auf die Straße gehen und um ihr Recht auf Leben kämpfen während sie sich im Krieg befinden, gibt uns noch viel mehr Motivation und Kraft und lässt uns stets hinterfragen, ob wir hier unter den Bedingungen in Europa nicht noch viel mehr erreichen könnten.

Eines der Ziele der Kampagne ist ja der Kampf um die internationale Anerkennung von Feminizid unter anderem als Straftatbestand des Völkerstrafrechts. Weltweit ist der Kampf gegen Feminizid ein aktuelles Thema und die Realtiät von Frauen und Bewegungen in unterschiedlichen Teilen der Welt. Wie bewertet ihr dahingehend gerade die Umsetzung und Verbindung der Kampagne mit anderen Frauenbewegungen und -kämpfen weltweit? Was für Potenziale seht ihr in der Kampagne?

Die Kampagne war von Anfang an auf internationale Kämpfe ausgerichtet, weil klar war, dass uns das Thema Feminizid alle angeht. Vor allem in Latein Amerika ist die Kampagne mit großem Interesse und Enthusiasmus aufgenommen worden. Wie ihr sicherlich wisst gibt es ausgehend von der NiUnaMenos-Bewegung in Argentinien schon seit Jahren einen sehr erfolgreichen Organisierungsprozess der Frauen zur Selbstverteidigung gegen Morde an Frauen. Sie haben unsere Vorbereitungen für die Kampagne sehr inspiriert und uns wirklich sehr unterstützt. Gemeinsam haben wir einige tolle Ideen entwickelt, eine davon möchte ich euch gerne erzählen: wir möchten ein selbstorganisiertes Tribunal gegen den weltweiten Feminizid durchführen. Wir möchten die Täter, die normalerweise ungestraft davon kommen, anprangern, ihre Verbrechen öffentlich machen und sie anklagen! Wir werden mit vereinter Kraft und großer Öffentlichkeit Gerechtigkeit einfordern und sie uns erkämpfen, indem wir uns noch besser organisieren! Uns ist klar, dass die UN und andere von den Kolonialmächten selbst geschaffene internationale Organe nichts gegen den weltweiten Feminizid unternehmen werden, ehe wir sie nicht so sehr unter Druck setzen, dass sie nicht mehr anders können. Dafür muss es uns gelingen, die demokratischen Gesellschaften zu mobilisieren und zu stärken. Kein Mensch sollte angesichts der unfassbaren Verbrechen, die jeden Tag passieren, schweigen! Allen sollte bewusst sein, dass die feminizidale Politik die gesamte Gesellschaft zersetzt und letzten Endes ihrer Existenz beraubt. Je früher wir das erkennen und dementsprechend handeln, desto eher können wir die Frauenmorde stoppen und eine freie, lebendige Gesellschaft aufbauen! Wir haben auch von anderen Frauenbewegungen großes Interesse vernommen. Einige haben sich von unserer Kampagne inspirieren lassen und wollen nun eine ähnliche Kampagne für ihre Region starten! Wir denken, dass dies wirklich die beste Möglichkeit darstellt, gegen Feminizide zu kämpfen: Überall Kampagnen dieser Art zu beginnen, sie miteinander zu vernetzen, mit vereinter Kraft die Frauenmorde und das System dahinter offen zu legen und sich über die Alternativen eines freien und würdevollen Lebens auszutauschen!

Welche Botschaft wollt ihr in die Welt senden?

Wir möchten noch einmal mit Nachdruck betonen, wie wichtig wir den Zusammenhalt und den gemeinsamen Kampf als Frauen empfinden. Wir möchten allen Frauen dieser Welt sagen: organisiert euch, lasst nicht länger zu, dass ihr auch nur eine weniger werdet! Organisiert überall auf der Welt Kampagnen dieser Art und lasst uns diese dann zusammen bringen! Jede einzelne Frau hat das Recht frei, selbstbestimmt und in Würde zu leben!

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