Das Ergebnis jahrzehntelanger Kämpfe der Frauenbewegungen

Ein Text von Women Defend Rojava zu den neusten Entwicklungen in Nord- und Ostsyrien

In Nord- und Ostsyrien ist eine demokratische Frauenrevolution Realität geworden. Unter schwierigsten Bedingungen wurde nach der Idee des Demokratischen Konföderalismus eine Alternative zu patriarchalen und staatlichen Strukturen erschaffen. Diese Alternative wurde in einer Region aufgebaut, die unter einem strengen wirtschaftlichem Embargo steht. Nord- und Ostsyrien wird pausenlos durch die Türkei angegriffen, aber die Frauenrevolution schafft es dennoch sich in der Praxis immer weiterzuentwickeln. Die Arbeit, die Frauen in den letzten Jahren und sogar schon vor Beginn der Revolution in Rojava geleistet haben, hat vieles verändert. Frauen sind nicht mehr im selben Ausmaß auf ein klassisches Leben, das nur aus Hausarbeit in ihrer eigenen Familie besteht, beschränkt, sondern nehmen gleichwertig am öffentlichen Leben teil. Dies ist das Ergebnis jahrzehntelanger Kämpfe der Frauenbewegungen, wie Kongra Star, welche schon vor der Revolution als Yekîtiya Star Frauen organisierte. Jahrzehnte leisten Frauen in Rojava heldenhaften Widerstand. Zuletzt zeigt sich dies in der Person von Awaz Urmiye, welche sich mutig dem IS in Heseke entgegenstelle, als dieser Anfang des Jahres einen Ausbruchsversuch in Form eines großangelegten Angriffs auf das Gefängnis in Heseke, in dem tausende IS Gefangene inhaftiert sind, unternahm. Durch die Revolution in Rojava wurde deutlich, die Frau spielt eine Vorreiterinnenrolle in allen Bereichen des Lebens, sei es im Bereich von Ökonomie, Politik oder in den Selbstverteidigungseinheiten YPJ. In der Zeit des syrischen Regimes übernahmen Frauen keine politischen Rollen oder hatten keine Entscheidungsrechte. Heute sind sie gleichwertig beteiligt. Besonders in den zuletzt befreiten Gebieten, die vornehmend arabisch sind, werden neue Schritte vollzogen. Der Alltag der Frauen verändert sich, denn durch die Revolution und die Arbeit in politischen Organisationen bekommt die Frau eine ganz neue Stellung, in der sie in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen und am öffentlichen Leben gleichwertig teilzunehmen. Da dies ein laufender Prozess ist, werden viele Errungenschaften, die bereits bestanden noch weiter ausgebaut oder mit Leben gefüllt. In vielen Bereichen des Lebens spielen Frauen heute VorreiterInnenrollen. Zum Beispiel im Bildungssystem nehmen Frauen heute in Nord- und Ostsyrien die entscheidende Rolle ein, denn wohl neunzig Prozent der LehrerInnen sind Frauen. Dabei können Kinder in ihrer eigenen Sprache Bildung sehen. Es gibt je nach Bedarf in Assyrisch, Kurdisch und Arabisch Unterricht. Auch in den kulturellen Projekten und Institutionen engagieren sich mehrheitlich Frauen. Es sind oft Frauen und Mütter, die die Wichtigkeit ihre eigene Kultur zu bewahren, sehen. Kultur ist ein anderer Aspekt, der die Gesellschaft vor einer Assimilation und Genozid schützt. Die Bewegung der Kultur von Frauen Mesopotamiens in Nord und Ostsyrien, Hîlala Zêrîn organisiert Kulturelle Projekte und Aktivitäten, um die Identität und Selbstbestimmung der Bevölkerung zu erhalten. Eines der letzten Projekte war zum Beispiel das Sammeln alter Märchen, die über den autonomen Frauenfernsehsender JIN TV ausgestrahlt wurden. Jedes Jahr organisiert das Kultur- und Kunstkomitee von Kongra Star ein Festival, in dessen Zentrum die Kultur und Musik der verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Region stehen. Frauen schreiben Lieder über die Revolution. Im letzten Jahr wurde ein Tonstudio neu eröffnet und zwei Lieder für Zeynep Kınacı (Zilan) aufgenommen. In der Zukunft soll eine Akademie für Frauen, für Kultur und Kunst neu eröffnet werden.

Moralische und ethische Werte, sowie die Wichtigkeit der eigenen Muttersprache wird von allen Bevölkerungsgruppen in der Region verteidigt, aber es gibt auch viele Dinge, die AssyrerInnen, AraberInnen, KurdInnen, EzidInnen usw. für sich eigenständig entscheiden. Derzeit wird der Gesellschaftsvertrag in Nord- und Ostsyrien diskutiert und alle Bevölkerungsgruppen sind dabei in den Diskussionsprozess involviert. Es fanden bereits vier Sitzungen statt, in denen ein Vorschlag für den neuen Gesellschaftsvertrag in Nord- und Ostsyrien erarbeitet wurde. Dieser wird nun zur Diskussion stehen. In dem bisherigen Vorschlag wird festgelegt, dass mindestens fünfzig Prozent der politischen Repräsentation von Frauen bestetzt wird. Auch fortschrittliche Rechte für gesellschaftliche Gruppen wurden festgelegt, so ist zum Beispiel zum ersten Mal die ezidische Religion gleichwertig anerkannt. In Nord- und Ostsyrien gibt es eine spezielle Gruppe von Gesetzen und Beschlüssen, die die Rechte von Frauen sichern soll. Diese Rechte jedoch in der Praxis umsetzen zu können, heißt auch, sie durch Bildungen und Diskussionen den Menschen verständlicher zu machen und näher zu bringen. Ansonsten werden manche Beschlüsse nicht überall von der Bevölkerung praktiziert und es finden zum Beispiel dann immer noch Eheschließungen von Minderjährigen statt. Doch durch Bildung lässt sich zu verstehen geben: Die Ehe von minderjährigen Mädchen ist sehr schädlich für die Gesellschaft und die Betroffenen, sie sind nicht in der Lage ihre Meinung und Entscheidungen gleichwertig zu vertreten, sodass keine gleichberechtigte Ehe entstehen kann. In der Folge werden Männer in solchen Ehen oft gewalttätig oder es kommt vermehrt zu Scheidungen. Durch Krieg und Vertreibung kommt es jedoch häufiger zu solchen Eheschließungen. Die Familien sehen sich in existenziellen Notlagen. Daher spielen die Frauenorganisationen hier so eine wichtige Rolle, wirklich jede Frau zu erreichen und solche Eheschließungen zu verhindern.

In den letzten 2 Jahren werden endlich auch mehr ökonomische Projekte entwickelt. Dies ist sehr wichtig, denn die Region befindet sich unter einem ökonomischen Embargo. Frauen waren zwar meist in ihrer Familie für die Finanzen verantwortlich, denn ihnen wurde Fairness und Selbstlosigkeit zugesprochen, doch für die Arbeit in Agrikultur und Projekten braucht es konkrete praktische Erfahrungen. Daher haben auch viele Projekte anfangs ihr Ziel nicht erreicht. Somit wurden jedoch jene nicht so erfolgreichen Versuche zu Erfahrungen, die es ermöglichten in den letzten zwei Jahren bessereErgebnisse zu erzielen. So baut mittlerweile die Demsal Kooperative erfolgreich in größeren Mengen Gemüse an und hat auch verschiedene andere Standbeine wie Tierzucht und Obstplantagen. Es gibt viele weitere Kooperativen, Nähereien, Bäckereien für Süßwaren, die Teil der Frauenbewegung sind. Besonders in Dörfern zeigt sich die Notwendigkeit für solche Projekte, denn Frauen können oft nicht von heut auf morgen ihr Dorf verlassen oder zur Arbeit reisen, weshalb es notwendiger ist auch Projektean ihrem Lebensort aufzubauen. Immer noch gibt es Frauen, die ökonomisch auf sich allein gestellt sind, die vielleicht auch Kinder haben. Für sie sind ökonomische Projekte lebensnotwendig. In Cizire gibt es ebenfalls viel Potenzial für landwirtschaftliche Projekte. Trotz starker Bemühungen Projekte im ökologischen und ökonomischen Bereich weiter zu entwickeln, stehen die ständigen Angriffe der Türkei und ihrer Söldnertruppen dem im Weg. In Serekaniye gab es riesige Obstbaumplantagen, die die während des Besatzungskrieges komplett verwüstet und verbrannt wurden.


In den vornehmend arabischen Gebieten, in Nord- und Ostsyrien, wurde Ende Mai 2021 die Frauenorganisation Zenobia offiziell gegründet. Die verschiedenen Frauenorganisationen in der der gesamten Region sind unabhängig voneinander und finden sich gemeinsam unter dem Schirm des Rates der Frauen in Nord- und Ostsyrien zusammen. Dabei unterstützte Kongra Star durch ihre jahrzehntelange Stärke und Erfahrungen den Aufbau des Rates der Frauen in Nord- und Ostsyrien sowie anderer Frauenorganisationen. Es ist sehr wichtig, eine gemeinsame Kraft zu entwickeln, um Veränderungen erwirken zu können. Auch im Bereich der Selbstverteidigung der Gesellschaft nehmen Frauen eine Vorreiterinnenrolle ein: von YPJ bis HPC Jin, den gesellschaftlichen Frauenverteidigungskräften. In letzter Zeit hat sich die Arbeit von HPC Jin weiterentwickelt und ist auch weiterhin in einem Veränderungsprozess. Das Ziel ist, dass eine jede zivile Frau nach ihren Möglichkeiten eine Rolle in der Verteidigung ihrer Heimat einnehmen kann. Denn sie sind es, die ihre eigenen Viertel und Dörfer verteidigen und auf zwei Ebenen eine entscheidende Rolle spielen können: Der Verteidigung der Gesellschaft gegen Angriffe von außen sowie sowie zur Lösung innerer Probleme. Seit 2016 besteht HPC Jin als formales Komitee. Schon davor hatten selbstverständlich auch zivile Frauen mit all ihrer Kraft die Verteidigung ihrer Heimat unterstützt. Auch als der IS zuletzt in Heseke angriff, war HPC Jin vor Ort.

Auch die diplomatischen Bemühungen der Frauenorganisationen in Nord- und Ostsyrien entwickeln sich weiter. 2021 fand die zweite Frauenkonferenz Mittlerer Osten/ Nordafrika statt. Kongra Star war dabei eine der Organisatorinnen. Es gibt auch diplomatische Arbeiten und Frauen organisieren sich gemeinsam in Südkurdistan und im Libanon. In diesem Sinne versuchen die Frauenorganisationen in Nord- und Ostsyrien eine Kraft zu werden, die im ganzen Mittleren Osten Veränderung anregt. Darüber hinaus gab es eine Delegation bestehend aus drei Frauen aus Nord- und Ostsyrien, die das Baskenland, Katalonien und Madrid besuchten. Dabei sprachen sie sowohl mit politischen Institutionen des Baskenlandes und Kataloniens, als auch mit feministischen Organisationen und Gruppen, sowie mit den Women Defend Rojava Komitees vor Ort.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sich die Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien in allen Bereichen weiterentwickelt. Um so wichtiger ist es, sie gegen alle Angriffe, die darauf abzielen die Frauenrevolution zu zerstören, zu verteidigen. In den letzten Monaten kam es auf allen Ebenen zu Angriffen durch die Türkei. Dabei wurden türkische Drohnenangriffe zum Beispiel zeitgleich mit dem Angriff des IS in Heseke durchgeführt. Die Türkei und der IS verfolgen dieselbe lebensfeindliche, patriarchale Ideologie. Im Leben vieler Frauen bedeuten beide Gewalt, organisierte Morde, Gefängnis und Folter. Krieg, Gewalt und Vertreibung verschlechtern als Folge der türkischen Invasionskriege die Situation der Frauen immens. Gewalt wird durch die ständigen Angriffe normalisiert. Doch auch innerhalb der Region gibt es immer wieder Angriffe auf oder Handlungen gegen Frauen. All diese Angriffe zielen auf die Errungenschaften der Frauenrevolution ab. Es braucht also einen kontinuierlichen Widerstand und Organisation, um die Errungenschaften der Frauenrevolution zu verteidigen. Nur dadurch kann die Freiheit der Frau und damit der gesamten Gesellschaft im Alltag weiterentwickelt werden.

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