Antwort der Jineolojî Fakultät Rojavas an die Universität Emden

An die Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit
Universität für angewandte Wissenschaften
Emden/Leer – Deutschland

Qamişlo, 19. Oktober 2019

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
Sehr geehrte Professorinnen und Professoren, Dozentinnenen und Dozenten
Sehr geehrte Studierende der Universität Emden,

Wir danken euch für eure Solidarität und Freundschaft. Wir schicken euch warme Grüße aus der Region des Widerstandes gegen die unmenschlichen Angriffe, die zur Zeit auf unser Leben stattfinden.

Seit dem 9. Oktober 2019 haben der türkische Staat und seine verbündeten jihadistischen Gruppen Regionen in ganz Nord- und Ostsyrien angegriffen, insbesondere die Stadt Serêkaniyê (siehe Fußnote). In Folge dieses Angriffes wurden Massaker und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen unsere Bevölkerung und unsere Verteidigungseinheiten durchgeführt. Dies findet mit Waffen statt, die von vielen verschiedenen Ländern an die Türkei verkauft wurden. Unser Rechte auf Leben, Gesundheit und Bildung wird dadurch im höchsten Maße verletzt.

Seit Beginn der Rojava-Revolution im Jahr 2011 sind wir mit brutalen Angriffen der türkischen Armee und von ihr aufgebauten bewaffneten Gruppen konfrontiert. Tausende von Menschen haben ihr Leben im Kampf gegen den IS verloren oder sind verwundet worden. Gleichzeitig haben wir jedoch ein neues Lebenssystem aufgebaut mit einer autonomen und demokratischen Verwaltung.

Zum ersten Mal in der Geschichte konnten wir den Traum unserer Großeltern verwirklichen: Bildung in kurdischen Muttersprache und eine demokratische Universität! Der freie Wille der Frauen, Demokratie und das Streben nach ökologischer Nachhaltigkeit sind die Grundlagen für alle unsere sozialen, kulturellen und politischen Strukturen. Frauen sind in allen Lebensbereichen, in der Verwaltung und Politik, vertreten und beteiligt.

Jeder Schritt nach vorn beim Aufbau unseres Systems der Selbstverwaltung der Menschen in Nord- und Ostsyrien wurde durch Angriffe der herrschenden Länder und Besatzungsdrohungen der Türkei beantwortet! Nur mit unseren Möglichkeiten der Selbstverteidigung widersetzen wir uns einem der größten NATO-Armeen. Hochtechnologische Kampfflugzeuge, Waffen und Bomben, die geschaffen wurden, um Menschen und Umwelt zu schädigen, werden heute an unserer Bevölkerung und unseren Boden getestet.

In den letzten 10 Tagen haben wir Verletzungen an Kinder, Jugendlichen und Frauen aus benachbarten Städten und Dörfern gesehen die darauf hindeuten, dass die türkische Regierung und ihre Verbündeten auch chemische Waffen in ihren Massakern in unserem Land einsetzen. Die Bilder, die in den internationalen Medien veröffentlicht wurden, reflektieren nur kleine Momente der gesamten Realität dieses Krieges! Die Menschen in Nord- und Ostsyrien erleben heute eine große Tragödie – wir wissen nicht, wie viel von dieser Realität euch erreicht hat.

Diese illegalen und grausamen Angriffe müssen unverzüglich gestoppt werden. Der türkische Staat und Erdogan müssen von einem internationalen Gerichtshof für all ihre Kriegsverbrechen verfolgt werden. Diejenigen, die Waffen und Kampfflugzeuge verkauft haben, machen sich mitschuldig an diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In den letzten Tagen haben viele Regierungen angekündigt, dass sie den Waffenhandel mit Erdogan stoppen. Dies ist ein positiver Schritt.

Aber weder der so genannte “Waffenstillstand” noch der Verzicht auf den Verkauf von Waffen an die Türkei, hat den Krieg und die Massaker gegen unsere Bevölkerung gestoppt! Obwohl viele Länder die Aggression der Türkei verurteilt haben, hat dies nicht dazu geführt, dass die Angriffe angehalten haben. Internationale Gremien müssen wirksame Entscheidungen treffen und effektive Maßnahmen umsetzen – und zwar jetzt!

Das Dringendste ist, dass die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien gestoppt werden müssen. Sie bedrohen unser Leben und berauben uns unserer grundlegenden Menschenrechte wie unser Recht auf Bildung oder die Umsetzung unseres Alltages. Wenn dieser Besatzungskrieg nicht gestoppt wird, sehen wir eindeutig die Gefahr, dass dieser Krieg zu einer ethnischen Säuberung führt. Die Massaker die von jihadistischen Gruppen ausgeführt werden, werden sich dann im gesamten Nahen Osten ausbreiten. Die Solidarität der demokratischen Kräfte weltweit gibt uns Kraft. Wir glauben, dass wir mit dieser Stärke in der Lage sind eine freie und schöne Zukunft aufzubauen.

Seit 10 Tagen sind wir ohne Pause auf den Beinen. Wir haben uns den Massendemonstrationen angeschlossen, die fordern diesen Krieg zu stoppen. Wir haben uns in den zivilen Arbeiten zur Unterstützung derer, die aus den Kriegsgebieten vertrieben wurden, beteiligt. Wir waren inRettungskonvois, die Verwundete aus den von der türkischen Armee belagerten Gebieten herausgeholt haben. Und wir werden weiter daran arbeiten, unsere Gesellschaft gegen die Qual des Krieges zu unterstützen und zu schützen, bis wir Bedingungen haben, unter denen unsere Universität ihre Arbeit wieder aufnehmen kann. So wehren wir uns gerade gegen die Besetzung und Zerstörung.

Wir verstehen sehr gut die Bedenken und Befürchtungen, die ihr als unsere Freundinnen und Freunde an der Universität Emden habt. Aber wir werden alles mögliche tun um unsere Arbeiten an der Universität und der Jineolojî Fakultät zu schützen und fortzusetzen. Dies ist nur möglich, wenn die Bedingungen dafür ein demokratisches Zusammensein garantieren, in dem der Wille der verschiedenen kulturellen, ethnischen und religiösen Gruppen unserer Gesellschaft anerkannt werden.

Wir vertrauen auf euer freundschaftliches Engagement und darauf, dass auch ihr euer Bestes geben werdet unsere Stimmen in der Welt ein Gehör zu verschaffen, um die andauernden Massaker und den Besatzungskrieg zu stoppen.

Wir hoffen, dass wir mit einem gemeinsamen Widerstand der Invasion ein Ende bereiten können und dass wir in dieser dunklen Zeit ein Lichtstrahl für eine bessere Zukunft und Menschlichkeit werden können.

Beste Grüße,
Rojava Universität
Fakultät für Jineoloji

Fußnote: Serêkaniye war die erste Stadt, die am Anfang der Rojava-Revolution 2012, die von der durch dee türkischen Staat unterstützen El Nusra-Front angegriffen wurde. Mit den Angriffen, die sich heute gegen Serêkaniyê richten, zielt der türkische Staat auf die Besetzung von Nord- und Ostsyrien und auf unsere Vertreibung aus unserem Land ab.

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